Der globale Polizeistaat
minimieren. Es muss, unjuristisch formuliert, noch nicht viel passiert sein, um zuschlagen zu können. Wo genau verlaufen im Krieg gegen das unfassbare Böse die Grenzen dieses polizeirechtlichen Minimierungsprozesses? Dies ist die Kernfrage der Diskussion um das Recht der Terrorabwehr. Sie wird uns im nächsten Kapitel beschäftigen.
»Freunde der Fährnis«
Verunsicherung, zweite Dimension - Verbrechen oder Krieg? -
Die Segnungen der Fliegerei - Leviathans hässliche Kratzer -
Die Ordnung franst aus - So argumentieren Putschisten
Doch die Herausforderung ist weit größer. Dieser Feind überfordert nicht nur die Strukturen der inneren Sicherheit, er verwischt die seit dem Westfälischen Frieden scheinbar sichere Grenze zwischen innerer und äußerer Sicherheit. Denn er tritt zugleich als Verbrecher und als Kriegsgegner auf. Und dies stellt nicht nur den überkommenen Rechtsstaat infrage, sondern den Staat überhaupt. »Die Entwicklung der Kriminalität und gerade auch der terroristischen Gewalt«, befürchtet der Verfassungsrichter Udo Di Fabio, »übersteigt Grenzen, nicht nur die des Staates, sondern auch ideelle Grenzen der Politik und des Rechts. Dazu gehört, dass getrennte Rechtsräume und die Vorstellung von innerer und äußerer Rechtsordnung zur Disposition gestellt scheinen.«
Um die Herausforderung, vor die das Recht des modernen Staates gestellt ist, zu erahnen, kann man sich in die Situation eines Lesers der US-amerikanischen Tageszeitung International Herald Tribune vor hundert Jahren versetzen. Am 9. September 1908, 93 Jahre und zwei Tage vor dem Anschlag auf die Twin Towers in New York und das Pentagon in Washington, berichtet das Blatt von der erstaunlichen Unternehmung des Mr. Orville
Wright: »Wright und sein Flugzeug haben heute Morgen den ersten Platz in der Welt der Luftfahrt erobert.« Weiter: »Sie« - nämlich der Mister und seine treue Maschine - »blieben 57 Min. 31 Sec. in der Luft, und sie kamen hauptsächlich deshalb herunter, weil Mr. Wright müde wurde«, nicht etwa seine Maschine. »Es ist damit ein für alle Mal geklärt«, belehrt das Blatt den staunenden Leser, »dass Flugzeuge über längere Zeiträume in der Luft manövriert werden können - und dass dies nicht mehr Schwierigkeiten macht, als etwa ein Auto zu chauffieren.«
Hundert Jahre später wird allerorten betont, die Terrorattacken vom 11. September 2001 markierten eine Zeitenwende. Und es kann sein, dass tatsächlich erst das Inferno der brennenden Türme von Manhattan überdeutlich machte, wie vieles, was man bis dahin für sicher hielt, nun nicht mehr gilt. Doch die wahre Zeitenwende stellt jene Meldung über Mr. Wrights Wundermaschine dar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte eine Aufbruchstimmung in Amerika, dem Land der unbegrenzten technischen Möglichkeiten. Hier konnte ein Mensch 57 Minuten und 31 Sekunden in der Luft bleiben, und er musste überhaupt nur deshalb wieder herunterkommen, weil er der Technik zum Trotz müde wurde.
Dass die kühne Tat des Mr. Wright irgendwann in Krieg oder Massenmord enden könnte, wenn Fanatiker die Segnungen der neuen Technik gegen die Gesellschaft und den sie beschützenden Staat wenden würden, konnte man nicht voraussehen. Konnte man das wirklich nicht? Der amerikanische Romancier Thomas Pynchon beschreibt in seinem jüngsten Roman Gegen den Tag die Kultur einer Weltmacht im Morgengrauen des 20., des mörderischen Jahrhunderts: Die Segnungen der Fliegerei, der Elektrizität, der Kommunikation mit und ohne Drähte, das Nebeneinander edelster Zukunftsträume und elendester Ausbeutung der Menschen in den Bergwerken des Fortschritts sind nie so eindrucksvoll und zynisch beschrieben worden wie bei Pynchon. Alles wird aus den Angeln gehoben in dieser Geschichte, Realität und Zauberei, Physik und Aberglaube, Liebe und Hass,
Schwerkraft und Zeit, Recht und Unrecht - vor allem aber: die Menschlichkeit.
Das ist ja kein Märchen. Die Folgen der Erhebung des Menschen in die Luft, der beginnenden Globalisierung waren zuerst in den Vereinigten Staaten zu beobachten: Massenelend unter den Einwanderern, Fremdenfurcht, soziale Unruhen, organisierte Kriminalität, Al Capone, der Mann, der um des geschäftlichen Vorteils willen über Leichen ging und schließlich nur wegen Steuerhinterziehung eingelocht werden konnte. Die Prohibition als hilfloser Versuch des Staates, die zusammenbrechende öffentliche Ordnung mit undurchsetzbaren Verboten wiederherzustellen, dann der erste
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