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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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sagte Gringoire, entzückt über die Veränderung des Gesprächs; „ich habe mir den ganzen Winter hindurch die Fingerspitzen mit dem Atem gewärmt. Ihr habt also die Gabe, in der Zukunft zu lesen?“ – Sie verfiel wieder in die kurze Rede: „Nein.“ – „Der Mann, den Ihr Zigeunerherzog nanntet, ist wohl der Führer Eures Stammes?“ – „Ja.“ – „Er hat uns verheiratet“, fügte der Dichter blöde hinzu. Sie schnitt ihr gewöhnliches Mäulchen: „Ich weiß ja nicht einmal deinen Namen.“ – „Meinen Namen? Wenn Ihr ihn wissen wollt, Peter Gringoire.“ – „Meiner ist schöner.“ – „Böses Mädchen! Ihr werdet mich aber nicht ärgern. Wenn Ihr mich besser kennt, werdet Ihr mich vielleicht mehr lieben. Auch habt Ihr mir Eure Geschichte mit so viel Zutrauen erzählt, daß ich Euch auch ein wenig von meiner schuldig bin. So wißt, ich heiße Peter Gringoire und bin der Sohn eines Pächters des Amtes von Gonesse. Mein Vater ward von den Burgundern gehängt, meiner Mutter ward der Bauch von den Picardern aufgerissen. Dies geschah bei der Belagerung von Paris vor 20 Jahren. So ward ich mit sechs Jahren zur Waise und hatte auf dem Pariser Pflaster keine andren Sohlen als die meiner Füße. Ich weiß nicht, wie ich den Zwischenraum von sechs bis sechzehn Jahren zurücklegen konnte; eine Obsthändlerin warf mir hier ein Pflaume, ein Bäcker dort eine Brotkruste hin; abends ließ ich mich von der Polizei aufgreifen, die mich ins Gefängnis brachte, und fand dort ein Strohlager. Alles dies hinderte mich nicht, groß und mager zu werden, wie Ihr seht. Im Winter wärmte ich mich an der Sonne im Vorhof des Hotel von Sens und fand es sehr lächerlich, daß das Freudenfeuer des St. Johannistages auf die Hundstage verspart wurde. Mit sechzehn Jahren wollte ich mir einen Beruf wählen. Nach und nach habe ich in allen Berufen herumgetappt. Bald bemerkte ich, daß mir zu jedem etwas fehlte. Da ich sah, ich taugte zu nichts, ward ich Dichter und Rhythmenschreiber. Diesen Beruf kann ein Vagabund immer ergreifen; auch ist es besser als zu stehlen, wie mir einige Söhne von Spitzbuben, meine Freunde, rieten. Zum Glück traf ich eines Tages auf Dom Claude Frollo, den ehrwürdigen Archidiakonus von Notre-Dame. Er zeigte mir Teilnahme, und ihm verdanke ich’s gegenwärtig, daß ich ein wahrer Gelehrter bin, der von Ciceros Officien bis zum Mortuolog der Cölestiner Latein versteht. Auch bin ich der Dichter des Mysteriums, das man heute unter großem Triumph beim Zulauf des Volkes im Saale des Palais gab. Ferner schrieb ich ein Buch von sechshundert Seiten über den wunderbaren Kometen von 1465, worüber ein Mann verrückt ward. Auch hatte ich noch in andern Unternehmungen Glück. Als ein Artillerie-Zimmermann arbeitete ich an der großen Bombarde von Jean Maugue, die, wie Ihr wißt, auf der Brücke von Charenton, am Tage, wo man Versuche mit ihr machte, platzte und vierundzwanzig Neugierige tötete. Ihr seht, daß ich keine schlechte Partie bin. Auch kenne ich noch viele Kunststücke, die ich Eure Ziege lehren kann, z. B. den Bischof von Paris nachzuäffen, den verfluchten Pharisäer. Und endlich wird mir mein Mysterium viel gemünztes Gold einbringen, wenn man mich bezahlt. Kurz, mein Ich, mein Geist, meine Wissenschaft steht zu Eurem Befehl; ich bin bereit, wie es Euch beliebt, mit Euch zu leben, keusch oder lustig, als Ehemann, wenn Ihr dies für gut haltet; als Bruder, wenn Euch das noch mehr gefällt.“
    Gringoire schwieg und erwartete die Wirkung seiner Rede auf das junge Mädchen. Sie heftete den Blick zur Erde. „Phoebus“, sprach sie halblaut. Dann wandte sie sich zum Dichter: „Phoebus, was bedeutet das?“
    Gringoire konnte zwar nicht genau begreifen, welche Beziehung zwischen jener Frage und seiner Anrede bestand, es war ihm aber nicht unangenehm, mit seiner Gelehrsamkeit glänzen zu können. Er antwortete, sich räuspernd: „Das ist ein lateinisches Wort und heißt die Sonne.“ – „Sonne?“ fragte Esmeralda. – „So hieß ein schöner Bogenschütze, der Gott war.“ – „Gott!“ wiederholte die Zigeunerin, und in ihrem Akzent lag etwas Sinnendes und Leidenschaftliches.
    In dem Augenblick löste sich eines ihrer Armbänder und fiel zu Boden. Gringoire bückte sich, es aufzunehmen, und als er sich aufrichtete, war das Mädchen mit der Ziege verschwunden. Er hörte das Geräusch eines Riegels; es war ohne Zweifel an einer kleinen Türe, die mit einer benachbarten Kammer in Verbindung stand

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