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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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blitzten über den Häusern. Er war vermutlich nahe am Fluß, dessen dumpfes gewaltiges Rauschen er vernahm. Als er vor einer kleinen Gittertür in einer dicken, mit hebräischen Buchstaben bedeckten Mauer stand, wurde ihm klar, daß er sich im Judenviertel befand. Über die Mauer hingen die Zweige einer süßlich duftenden Weide herab. Durch das Gitter hindurch sah man zwischen Gräsern eingesunkene große dunkle Steine. Es war der alte Judenfriedhof von Prag. Ein paar Schritte weiter gelangte Mersault, der ins Laufen geraten war, wieder auf den alten Rathausplatz. Bei seinem Hotel angekommen, mußte er sich an eine Mauer lehnen und sich unter Qualen erbrechen. Mit der ganzen Klarsicht, die einem äußerste Schwäche verleiht, fand er den Weg zu seinem Zimmer, legte sich hin und schlief auf der Stelle ein.
     
    Am nächsten Morgen wurde er durch die Zeitungsverkäufer geweckt. Das Wetter war noch immer drückend, aber hinter den Wolken ahnte man die Sonne. Mersault fühlte sich besser, wiewohl noch etwas schwach. Aber er dachte an den langen Tag, der nun begann. Derart mit sich allein zu leben, bedeutete, daß die Zeit sich aufs äußerste dehnte und jede Stunde des Tages für ihn eine Welt zu enthalten schien. Vor allem hieß es Krisen wie die am Tag zuvor vermeiden. Das beste war, methodisch die Stadt zu besichtigen. Noch im Pyjama setzte er sich an den Tisch und stellte einen geordneten Zeitplan auf, der seine Tage eine Woche lang ausfüllen sollte. Klöster und Barockkirchen, Museen und alte Stadtviertel — er ließ nichts aus. Dann machte er seine Toilette, bemerkte, daß er vergessen hatte, sich einen Kamm zu kaufen, ging wie am Vortag schweigend und ungekämmt hinunter zu dem Portier, an dem ihm bei Tageslicht die struppigen Haare, die ratlose Miene und die Weste auffielen, an der der zweite Knopf fehlte. Beim Verlassen des Hotels begrüßte ihn eine kindliche, zärtliche Melodie, die jemand auf der Ziehharmonika spielte. Der Blinde vom Tag zuvor hockte jetzt auf den Fersen an der Ecke des alten Platzes und handhabte sein Instrument mit dem gleichen ins Leere lächelnden Ausdruck, wie von sich selbst befreit und ganz und gar der Bewegung eines Lebens verhaftet, das an ihm vorüberglitt. An der Straßenecke bog Mersault ab und stieß wieder auf den Gurkengeruch. Mit ihm kehrte seine Angst zurück.
     
    Dieser Tag wurde, was auch die nächsten werden sollten. Mersault stand spät auf, besichtigte Klöster und Kirchen, suchte Zuflucht in ihrem Gruft- und Weihrauchgeruch und begegnete immer wieder, sobald er ans Tageslicht zurückgekehrt war, mit den Gurkenhändlern, die man an jeder Straßenecke traf, seiner geheimen Furcht. Durch diesen Geruch hindurch sah er die Museen und begriff die Fülle und das geheimnisvolle Genie der Barockkunst, die Prag mit ihrem Goldglanz und ihrer Pracht erfüllte. Das goldene Licht, das tief im Halbdunkel sanft auf den Altären schimmerte, schien ihm dem aus Nebel und Sonne gemischten messinggelben Himmel entnommen, der Prag so häufig überwölbt. Das Gewirr der Voluten und Rosetten, das ganze komplizierte Dekor, das wie aus Goldpapier ausgeschnitten wirkte und so rührend an die Kinderkrippen erinnert, die man zu Weihnachten aufstellt, weckten in Mersault ein Gefühl für das Grandiose, das Groteske und die seltsame Anordnung der Formen; das alles hatte etwas von einem fieberhaften, kindischen und großsprecherischen Romantizismus, mit dem der Mensch sich der Dämonen in seinem Innern erwehrt. Der Gott, der hier angebetet wurde, war der, den man fürchtet und ehrt, nicht der, der angesichts der glühenden Spiele des Meeres und der Sonne bereit ist, mit den Menschen zu lachen. Wenn Mersault aus dem leisen Geruch nach Staub und dem Nichts hervortrat, der unter den düsteren Wölbungen wohnte, kam er sich wieder wie ein Mensch ohne Heimat vor. Abend für Abend begab er sich in das Kloster der tschechischen Mönche, das sich im Westen der Stadt befand. Im Klostergarten flogen die Stunden mit den Tauben davon, die Glocken hallten sanft auf dem Rasen wider, doch immer noch war es sein Fieber, das zu Mersault sprach. Zugleich indessen verging die Zeit. Dann aber war auch schon die Stunde da, zu der Kirchen und sonstige Bauwerke geschlossen wurden und die Gaststätten noch nicht geöffnet waren. Hier lauerte die Gefahr. Mersault ging dann an den mit Gärten und Musikkapellen besetzten Moldauufern im Licht des endenden Tages spazieren. Kleine Boote fuhren flußaufwärts von einem Wehr

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