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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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eines genommen hätte, und zahlte aus Müdigkeit. Als die Tür sich wieder geschlossen hatte, fühlte Mersault, wie unerklärliche Tränen aus seiner Brust aufstiegen. Ganz in der Nähe schlug es vier Uhr. Er hatte zwei Stunden geschlafen. Er wurde sich klar darüber, daß er von der Straße nur durch das gegenüberliegende Haus getrennt war, und verspürte das dumpfe, geheimnisvolle Branden des Lebens, das dort vorüberwogte. Es war besser, jetzt auszugehen. Mersault wusch sich sehr lange die Hände. Um sich die Nägel zu feilen, ließ er sich wieder auf dem Bettrand nieder und bewegte die Feile regelmäßig auf und ab. Zwei- oder dreimal hallten Signale im Hof so gellend wider, daß Mersault erneut ans Fenster trat.
       
    Da sah er, daß unter dem Haus eine tunnelartig gewölbte Durchfahrt zur Straße führte. Es war, als ob alle Stimmen von draußen, das ganze unbekannte Leben von der anderen Häuserseite her, der Lärm von Menschen, die eine Adresse, eine Familie, eine Verstimmung mit dem Onkel, ihre Lieblingsspeisen, eine chronische Krankheit hatten, das Gewimmel von Wesen, deren jedes über eine eigene Persönlichkeit verfügte, wie ein großes Pulsieren, das für immer von dem Monstreherzen der Menge abgetrennt war, sich in diese Durchfahrt ergossen und an den Mauern des Hofes aufstiegen, um wie Blasen in Mersaults Zimmer zu zerplatzen. Und dadurch, daß er sich so empfänglich, so voller Aufmerksamkeit für jedes Zeichen der Welt draußen fühlte, wurde sich Mersault des tiefen Risses bewußt, durch den er dem Leben geöffnet war. Er zündete sich eine neue Zigarette an und griff in fieberhafter Eile nach seinen Kleidern. Als er seinen Rock zuknöpfte, kam ihm der Zigarettenrauch unter die Lider. Er kehrte zum Waschbecken zurück, spülte sich die Augen und wollte sich kämmen. Doch sein Kamm war verschwunden. Im Schlaf hatte sein Haar sich verfilzt, und er versuchte vergebens, es wieder in Ordnung zu bringen. Er ging hinunter, wie er war, mit Strähnen über dem Gesicht und struppigem Hinterkopf. Auf der Straße angekommen, ging er um das Hotel herum, um zu der kleinen Durchfahrt zu gelangen, die er von oben her gesehen hatte. Sie führte auf den alten Rathausplatz, und vor dem leicht verhangenen Abendhimmel, der sich über Prag niedersenkte, hoben sich schwärzlich die gotischen Turmspitzen des Rathauses und der alten Teynkirche ab. Eine zahlreiche Menge war unter den Arkaden der kleinen Gassen unterwegs. Bei jeder der vorübergehenden Frauen spähte Mersault nach dem Blick, der ihm erlaubt hätte, noch an seine Fähigkeit zu glauben, das zärtliche, zarte Spiel des Lebens zu spielen. Aber gesunde Leute haben ein natürliches Talent, fiebrigen Blicken auszuweichen. Schlecht rasiert, ungekämmt, in den Augen den Ausdruck eines gehetzten Tieres, mit einer Hose und einem Hemdkragen, die beide zerknittert waren, hatte er die wunderbare Sicherheit verloren, die ein gut geschnittener Anzug oder der Volant eines Wagens einem verleihen. Das Licht nahm Kupfertöne an, und der Tagesschein verweilte noch auf dem Gold der barocken Kuppeln, die man im Hintergrund des Platzes sah. Er lenkte seine Schritte zu einer dieser Kirchen, trat ein und setzte sich auf eine Bank, umfangen von dem jahrhundertealten Geruch. Die Wölbung lag völlig im Dunkel, aber von dem Gold der Kapitelle ging ein glänzender geheimnisvoller Schimmer aus, der in den Rillen der Säulen bis zu dem pausbäckigen Gesicht eines Engels oder einem verzerrt lächelnden Heiligen herniederfloß. Mersault verspürte wohl eine Süßigkeit, aber eine so bittere, daß er schnell wieder zur Schwelle zurückwich und, auf den Stufen stehend, die jetzt schon kühlere Nachtluft genoß, in die er sich gleich darauf stürzte. Es dauerte nur noch einen Augenblick, dann sah er den ersten Stern rein und nackt zwischen den Turmspitzen der Teynkirche aufleuchten.
     
    Er machte sich auf die Suche nach einem billigen Restaurant. Er drang in dunklere und weniger bevölkerte Gassen vor. Ohne daß es am Tage geregnet hätte, war der Boden doch feucht, und Mersault mußte um die schwarzen Lachen zwischen den vereinzelten Pflastersteinen einen Bogen machen. Dann begann ein dünner Regen niederzugehen. Es war sicher nicht weit bis zu den belebten Straßen, da man die Zeitungsverkäufer, die den Narodni Politika ausriefen, bis hierher hören konnte. Er indessen bewegte sich die ganze Zeit im Kreise. Plötzlich blieb er stehen. Ein sonderbarer Geruch kam ihm aus dem Dunkel

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