Der glückliche Tod
Taschen, sein Kopf mit dem wirren Haar war unbedeckt. In einer Entfernung von wenigen Schritten hörte er die Trambahnen quietschen, die den Wenzelsplatz hinunterfuhren.
«Welche Art von Zimmer wünschen Sie, mein Herr?»
«Ist mir egal», antwortete Mersault, der immer noch auf die Glastür starrte. Der Portier nahm einen Schlüssel vom Brett und reichte ihn Mersault.
«Zimmer Nummer zwölf», sagte er.
Mersault schien aufzuwachen.
«Wieviel kostet das Zimmer?»
«Dreißig Kronen.»
«Das ist zu teuer. Ich möchte ein Zimmer zu achtzehn Kronen. »
Wortlos griff der Mann nach einem anderen Schlüssel und zeigte Mersault den daranhängenden Messingstern: «Zimmer vierunddreißig», sagte er.
Als Mersault in seinem Zimmer saß, zog er den Rock aus, lockerte seine Krawatte, ohne sie ganz zu lösen, und streifte mechanisch die Ärmel seines Hemdes hoch. Er trat vor den Spiegel über dem Waschbecken und begegnete dort einem übermüdeten Gesicht, das an den Stellen, die nicht ein mehrere Tage alter Bart bedeckte, leicht gebräunt war. Sein während der Eisenbahnfahrt durcheinandergeratenes Haar fiel ihm unordentlich über die Stirn bis zu den zwei tiefen Falten zwischen den Augenbrauen, die seinem Blick etwas Ernstes und zugleich Weiches gaben, das ihn überraschte. Dann dachte er zunächst nur daran, sich in dem miserablen Zimmer umzusehen, das seinen einzigen Besitz ausmachte und über das hinaus er nichts wahrnahm. Auf einer abscheulichen Tapete mit großen gelben Blumen auf grauem Grund zeichnete sich in der dichten Schmutzschicht eine ganze Landkarte von schmierigen Kontinenten des Elends ab. Hinter der riesigen Heizung saß in den Ecken fettiger Staub. Der Lichtschalter war zerbrochen, so daß die Drähte frei lagen. Über dem Bett, dessen Matratze auf einem Lattengestell lag, hing an einer ölig glänzenden Litze, an der verkrustete Überreste von toten Fliegen hafteten, eine Glühbirne ohne Schirm herab, die sich klebrig anfühlte. Mersault inspizierte die Bettwäsche, die sich als sauber erwies. Er nahm seine Toilettensachen aus dem Koffer und legte sie nacheinander auf das Waschbecken. Dann schickte er sich an, sich die Hände zu waschen, drehte jedoch den Hahn gleich wieder zu und öffnete das vorhanglose Fenster. Es ging auf einen Hinterhof mit einem Spülstein zum Wäschewaschen und auf Häuserwände, in die kleine Fenster eingelassen waren. An dem einen trockneten Wäschestücke. Mersault legte sich hin und schlief auf der Stelle ein. Er erwachte in Schweiß gebadet, die Kleider verrutscht, und lief einen Augenblick in seinem Zimmer auf und ab. Dann zündete er sich eine Zigarette an und betrachtete im Sitzen, mit leerem Kopf, die Falten seiner zerknitterten Hose. In seinem Mund vermischte sich der bittere Geschmack des Schlafs mit dem der Zigarette. Er sah sich noch einmal in seinem Zimmer um und kratzte sich dabei unter dem Hemd an den Rippen. Ein abscheulicher süßlicher Geschmack kam ihm in den Mund angesichts von soviel Verlassenheit und Einsamkeit. Bei dem Gefühl, so weit von allem und selbst von seinem Fieber entfernt zu sein, und dem deutlichen Empfinden, wieviel Sinnloses und Jämmerliches auch auf dem Grund noch so gut geplanter Lebensläufe existiert, wurde er, in diesem Zimmer, das schändliche und verborgene Gesicht einer Art Freiheit gewahr, die aus Zweideutigkeit und Ratlosigkeit entsteht. Rings um ihn her schwappten wie Schlamm die schlaffen, kraftlosen Stunden und überhaupt alles, was Zeit war.
Jemand pochte heftig an die Tür, und aufgerüttelt erinnerte sich Mersault, daß er durch das gleiche Pochen geweckt worden war. Er machte auf und sah sich einem kleinen rothaarigen Alten gegenüber, der unter der Last von Mersaults beiden Koffern, die auf seinen Schultern riesig wirkten, fast zusammenbrach. Er erstickte beinahe vor Zorn, und zwischen seinen spärlichen Zähnen quoll ein von Beleidigungen und Schimpfreden triefender Speichel hervor. Mersault erinnerte sich jetzt an den abgerissenen Koffergriff, der das Tragen des größeren Koffers so unbequem machte. Er wollte sich entschuldigen, wußte aber nicht, wie er sagen sollte, er habe nicht gewußt, daß der Dienstmann so alt sei. Der kleine Alte fiel ihm ins Wort:
«Es macht vierzehn Kronen.»
«Für einen Tag Aufbewahrung?» wunderte sich Mersault.
Aus den langen Erklärungen, die er erhielt, ersah er dann, daß der Alte ein Taxi genommen hatte. Er wagte jedoch nicht zu sagen, daß er in diesem Fall gleich selber
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