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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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zum anderen. Mersault folgte ihnen, ließ den betäubenden Lärm und das Gurgeln einer Schleuse hinter sich, fand allmählich in den Frieden und die Stille des Abends zurück und ging alsbald wieder einem neuen Grollen entgegen, das bis zum Tosen anschwoll. Bei der neuen Schleuse angekommen, sah er zu, wie die kleinen bunten Boote vergeblich die Wehre ohne Kentern zu passieren versuchten, bis endlich einer es fertigbrachte, den Gefahrenpunkt zu überwinden und laute Zurufe das Brausen des Wassers übertönten. Diese ganze von Stimmen, Melodien und Gartendüften beladene Flut mit den kupferfarbenen Spiegelungen des Abendhimmels und den gewundenen grotesken Schatten der Statuen auf der Karlsbrücke trug Mersault nur das schmerzliche, brennende Bewußtsein einer Einsamkeit ohne Wärme zu, an der die Liebe keinen Anteil hatte. Und wenn er vor dem Duft von Wasser und Laub, der zu ihm aufstieg, den Schritt verhielt, glaubte er in seiner zusammengeschnürten Kehle Tränen aufsteigen zu spüren, die jedoch nicht kamen. Ein Freund oder sich öffnende Arme hätten genügt. Aber die Tränen machten Halt an der Grenze der Welt, in die er eingetaucht und die ohne Zärtlichkeit war. Zu anderen Malen überschritt er, immer um diese gleiche Abendstunde, die Karlsbrücke und erging sich auf dem Hradschin über dem Fluß, in diesem nur wenige Schritte von den belebtesten Straßen der Stadt getrennten verlassenen, stillen Viertel. Er irrte zwischen den großen Palästen umher, ging an riesigen gepflasterten Höfen, an schmiedeeisernen Gittern entlang und rings um die Kathedrale herum. Zwischen den hohen Mauern der Paläste hallten seine Schritte in der Stille. Dumpfer Lärm stieg aus der Stadt bis zu ihm empor. In diesem Viertel gab es keinen Gurkenverkäufer, aber etwas Bedrückendes lag in soviel Schweigen und Größe. Und so stieg Mersault denn auch schließlich immer wieder zu dem Geruch und der Melodie hinab, die nunmehr seine Heimat bildeten. Er aß in dem Restaurant, das er entdeckt hatte und das ihm wenigstens eine gewisse Vertrautheit bot. Er hatte seinen Platz neben dem Mann mit dem roten Stern, der abends allein erschien, einen Halben trank und an seinem Streichholz kaute. Während des Abendessens spielte immer noch der Blinde auf, und Mersault aß schnell, bezahlte und begab sich wieder in sein Hotel, wo er in einen fiebrigen Kinderschlaf sank, den er nicht eine Nacht zu entbehren brauchte.
     
    Täglich dachte Mersault daran abzureisen, und täglich wurde er, noch etwas tiefer eingesunken in seine Verlassenheit, von seinem Willen zum Glück noch weniger geleitet. Er war jetzt vier Tage in Prag und hatte sich noch immer nicht den Kamm gekauft, den er jeden Morgen vermißte. Er hatte indessen das dunkle Gefühl eines Mangels, und darauf wartete er auf eine unbestimmte Art. Eines Abends ging er auf dem Weg zu seinem Restaurant durch die kleine Gasse, in der er am ersten Abend auf den Geruch gestoßen war. Schon fühlte er ihn näher kommen, als kurz vor dem Restaurant, auf dem gegenüberliegenden Gehsteig, ihn etwas fesselte und veranlaßte, auf die andere Seite zu gehen. Ein Mann lag ausgestreckt auf dem Gehsteig, er hatte die Arme verschränkt, und sein Kopf ruhte auf der linken Wange. Drei oder vier Personen standen an die Mauer gelehnt und schienen, wenn auch sehr ruhig, auf etwas zu warten. Der eine rauchte, die anderen sprachen mit leiser Stimme. Doch ein Mann in Hemdsärmeln, mit der Jacke über dem Arm und den Hut nach hinten geschoben, führte rings um den Körper des Liegenden her einen wilden Tanz auf, eine Art von Indianertanz in hämmernden aufreizenden Rhythmen. Das nur schwache Licht einer entfernten Straßenlaterne verband sich mit dem matten Schein, der ein paar Schritte weiter aus dem Gasthaus drang. Dieser rastlos tanzende Mensch, der Tote mit den gekreuzten Armen, die ruhigen Zuschauer, der groteske Gegensatz und die ungewohnte Stille — alles das ergab in seiner Mischung aus Beschaulichkeit und Unschuld in dem ein wenig bedrückenden Spiel von Licht und Schatten eine Minute des Gleichgewichts, nach der, so schien es Mersault, alles sich in Wahnsinn auflösen müßte. Er trat noch etwas näher heran. Der Kopf des Toten schwamm in Blut. Er war auf die Seite der Wunde gesunken und nun zur Ruhe gekommen. In diesem entlegenen Winkel von Prag, zwischen dem spärlichen Lichtschein auf dem leicht glitschigen Pflaster, dem langen feuchten Gleiten der Autos, die wenige Schritte von dort vorüberfuhren, und,

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