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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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weiter entfernt, den in bestimmten Abständen rasselnd ankommenden Trambahnen, trat einem der Tod in einer süßlichen, penetranten Form entgegen, und sein Ruf, sein feuchter Atem war es, was Mersault in dem Augenblick verspürte, als er mit langen Schritten davoneilte, ohne sich noch einmal umzusehen. Plötzlich traf ihn der Geruch, den er vergessen hatte: er trat in das Restaurant und setzte sich an seinen Tisch. Der Mann war da, diesmal ohne sein Streichholz. Es kam Mersault vor, als liege etwas Verstörtes in seinem Blick. Er verscheuchte den törichten Gedanken, der ihm in den Sinn kam. Doch alles drehte sich in seinem Kopf. Bevor er noch etwas bestellt hatte, lief er jäh davon, rannte zu seinem Hotel und warf sich auf das Bett. Ein scharfer Stich drang brennend durch seine Schläfe. Mit leerem Herzen und verkrampftem Leib gab er sich dem Aufruhr seines Innern hin. Bilder aus seinem Leben quollen vor seinen Augen herauf. Etwas in ihm schrie nach den Gebärden von Frauen, nach sich öffnenden Armen und warmen Lippen. Aus der Tiefe der leidvollen Nächte von Prag, aus Essiggerüchen und kindlichen Melodien hob sich ihm das angstverzerrte Gesicht der alten Barockwelt entgegen, das ihm bis in sein Fieber gefolgt war. Mühsam atmend, mit Augen wie denen eines Blinden und mechanischen Bewegungen setzte er sich auf sein Bett. Die Nachttischschublade stand offen, sie war mit einer englischen Zeitung ausgelegt, in der er einen ganzen Artikel las. Dann sank er zurück auf das Bett. Der Kopf des Mannes hatte sich auf die Seite der Wunde gedreht, und in diese Wunde hätte man die Finger legen können. Er sah seine Hände und seine Finger an, und Kinderwünsche stiegen in seinem Herzen auf. Eine brennende geheime Glut quoll in ihm mit Tränen empor, es war die Sehnsucht nach Städten voller Sonne und Frauen, nach grünen Abenden, die sich heilend über Wunden breiteten. Die Tränen brachen hervor. In ihm entstand ein großer See von Einsamkeit und Stille, über den der traurige Sang von seiner Befreiung dahinstrich.
     
     In dem Zug, der ihn nach Norden führte, betrachtete Mersault seine Hände. Vor einem Gewitterhimmel sah man im Weiterfahren niedrig hängende schwere Wolken am Zug vorüberrasen. Mersault war der einzige Reisende in dem überheizten Waggon. Er war während der Nacht überstürzt aufgebrochen und nahm nun, allein diesem düsteren Morgen gegenüber, die ganze Weichheit der böhmischen Landschaft in sich auf, in der die Erwartung von Regen zwischen den großen seidigen Pappeln und den fernen Fabrikschornsteinen etwas wie ein Verlangen nach Tränen erweckte. Dann fiel sein Blick auf das weiße Schild mit den drei Inschriften: «Nicht hinauslehnen, E perico- loso sporgersei, Il est dangereux de se pencher au-dehors». Darauf schaute er wieder auf seine Hände, diese lebendigen wilden Tiere auf seinen Knien. Die eine, die linke, war lang und geschmeidig, die andere knotig und muskulös. Er kannte sie, er erkannte sie wieder und empfand sie zugleich als eine Sache für sich, so als wären sie zu Taten imstande, an denen sein Wille keinerlei Anteil hätte. Die eine legte sich jetzt auf seine Stirn und wollte das Fieber aufhalten, das in seinen Schläfen hämmerte. Die andere glitt an seinem Rock entlang und entnahm seiner Tasche eine Zigarette, die er gleich wieder einsteckte, als er jene Übelkeit in sich aufsteigen fühlte, die ihm alle Kraft entzog. Wieder auf seine Knie zurückgekehrt, sanken seine Hände schlaff auseinander, und mit schalenförmig nach oben gekehrten Flächen zeigten sie Mersault das Antlitz seines Lebens, das wieder zur Indifferenz zurückgekehrt war und sich jedem anbot, der es nehmen wollte.
     
    Er reiste zwei Tage lang. Diesmal aber fühlte er sich nicht mehr von einem Fluchtinstinkt getrieben. Gerade die Monotonie der Fahrt füllte ihn vollkommen aus. Dieser Eisenbahnwagen, der ihn quer durch halb Europa trug, hielt ihn zwischen zwei Welten in der Schwebe. Er hatte ihn genommen und würde ihn wieder verlassen. Der Zug entführte ihn aus einem Dasein, das er sogar bis auf die Erinnerung daran auslöschen wollte, um es an der Schwelle einer neuen Welt, in der sein Wünschen alles regieren würde, weiter fortzusetzen. Nicht ein einziges Mal verspürte Mersault Langeweile. Er blieb in seiner Ecke sitzen, wo ihn nur selten jemand störte, betrachtete seine Hände, dann die Landschaft und dachte nach. Ohne besondere Absicht dehnte er seine Fahrt bis nach Breslau aus und raffte sich nur an

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