Der glückliche Tod
entgegen. Stechend, beißend, weckte er in ihm alle quälenden Ängste. Er fühlte ihn auf der Zunge, ganz hinten in seiner Nase und an seinen Augen. Der Geruch war erst weit fort, dann an der Straßenecke, und zugleich war er zwischen dem jetzt dunkel gewordenen Himmel und dem glitschigen klebrigen Pflaster wie der böse Zauber der Nächte von Prag. Mersault ging darauf zu, und allmählich wurde er immer wirklicher, umhüllte ihn ganz, drang stechend in seine Augen und machte ihn völlig wehrlos. An einer Straßenecke begriff er endlich, was es war: eine alte Frau verkaufte Essiggurken, und ihr Geruch war das, was Mersault überfallen hatte. Ein Passant blieb stehen und kaufte eine Gurke, die die Alte in Papier einwickelte. Der Mann ging ein paar Schritte weiter, und dicht vor Mersault wickelte er sein Päckchen auf und biß kräftig in die Gurke hinein, aus deren aufgerissenem triefendem Fleisch der Geruch noch stärker hervorquoll. Von Unbehagen erfaßt lehnte Mersault sich an einen Pfeiler und sog eine ganze Weile in seine Lungen alles Seltsame und Einmalige auf, das ihm die Welt in diesem Augenblick bot. Dann ging er weiter und betrat ohne nachzudenken ein Restaurant, aus dem der Klang eines Akkordeons drang. Er ging ein paar Stufen hinab, blieb mitten auf der Treppe stehen und fand sich in einem düsteren, von rotem Lichtschein erfüllten Kellerraum. Offenbar fiel er auf, denn das Akkordeon klang gedämpfter, die Gespräche stockten, und die Gäste drehten sich nach ihm um. In einer Ecke saßen Mädchen und aßen etwas, wovon ihre Lippen sehr fettig waren. Die anderen Gäste tranken das braune, süßliche Bier der Tschechoslowakei. Viele rauchten nur, ohne etwas zu verzehren. Mersault fand Platz an einem langen Tisch, an dem nur ein einziger Mann saß. Groß und mager, mit gelblichem Haar, hockte er zusammengesunken auf seinem Stuhl, die Hände in den Taschen, und hielt zwischen aufgesprungenen Lippen ein schon von Speichel aufgeweichtes
Streichholzende, an dem er mit einem unangenehmen Geräusch saugte oder das er von einem Mundwinkel in den anderen schob. Als Mersault sich setzte, rührte der Mann sich kaum, lehnte sich an die Wand, schob sein Streichholz auf die Seite, an der der Ankömmling saß, und kniff kaum merklich die Augen zusammen. In diesem Moment bemerkte Mersault in seinem Knopfloch einen roten Stern.
Mersault aß wenig und schnell. Er hatte keinen Hunger. Das Akkordeon erklang jetzt lauter, und der Mann, der es spielte, hielt den Blick starr auf den Neuankömmling gerichtet. Zweimal versuchte Mersault, seinen Augen einen Ausdruck von Trotz zu geben und dem Blick des anderen standzuhalten. Aber das Fieber hatte ihn geschwächt. Der Mann sah ihn immer noch an. Plötzlich brach eines der Mädchen in Lachen aus, der Mann mit dem roten Stern im Knopfloch saugte heftig an seinem Streichholz, an dem sich eine kleine Speichelblase bildete, und der Musikant hielt, ohne den Blick von Mersault zu wenden, in der lebhaften Tanzmelodie, die er spielte, inne und stimmte eine langsame, vom Staub der Jahrhunderte überlagerte Weise an. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ließ einen neuen Gast ein. Mersault sah ihn nicht, aber durch die offene Tür wehte sofort der Geruch von Essig und Gurke herein. Er erfüllte den düsteren Kellerraum, mischte sich unter die geheimnisvolle Melodie des Akkordeons, blähte die Speichelblase an dem Streichholz des Mannes, machte die Gespräche plötzlich bedeutungsvoller, so als hätte sich von den Rändern der Nacht, die über Prag schlummerte, der ganze Wesensinhalt einer bösen und leidvollen alten Welt in die Wärme dieses Raumes und der hier anwesenden Menschen geflüchtet. Mersault, der ein übersüßtes Kompott aß, fühlte sich jäh bis aufs äußerte angespannt und spürte, daß der Riß, den er in sich trug, noch größer wurde und ihn noch mehr der Angst und dem Fieber öffnete. Er stand mit einem Ruck auf, rief den Kellner herbei, verstand nichts von seinen Erklärungen und bezahlte viel zuviel, während er wiederum die weitgeöffneten Augen des Musikanten starr auf sich gerichtet fühlte. Er gelangte zur Tür und bemerkte im Vorbeigehen, daß der Mann immer noch den Tisch anstarrte, den er gerade verlassen hatte. Da erst begriff er, daß der Mann blind war. Er erklomm die Stufen, machte die Tür auf und schritt, immer noch ganz und gar von dem allgegenwärtigen Geruch eingehüllt, durch kurze Gäßchen ins Dunkel der Nacht hinein.
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