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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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den Zollgrenzen auf, um sich eine neue Fahrkarte zu kaufen. Er wollte sich weiter allein mit seiner Freiheit fühlen. Er war müde und fand in sich kaum die Kraft, sich zu regen. Er sammelte in sich noch die geringsten Bruchteile seiner Stärke und seiner Hoffnungen, ballte sie zusammen und schichtete sie um, baute in sich selbst erneut sich selber und zugleich auch sein künftiges Schicksal auf. Er liebte diese langen Nächte, in denen der Zug auf den glatten Schienen davonlief, die wirbelnde Durchfahrt durch die kleinen Stationen, in denen nur die Uhr erleuchtet war, das jähe Bremsen vor dem konzentrierten Licht der großen Bahnhöfe, das man noch kaum bemerkt hatte, als es auch schon den Zug aufgeschluckt hatte und seinen strahlenden Goldschein, seine Helligkeit und seine Wärme in die Abteile ergoß. Hämmer klickten an die Räder, die Lokomotive ließ schnaubend ihren Dampf ab, und die automatische Geste des Beamten, der seine rote Scheibe senkte, schleuderte Mersault wieder in den wilden Lauf des Zuges hinein, bei dem einzig seine Klarsicht und seine Unruhe wachten. Von neuem war das Abteil von dem flimmernden Spiel aus Schatten und Licht erfüllt, wieder bedeckte es sich abwechselnd mit Schwärze und mit Gold. Dresden, Bautzen, Görlitz, Liegnitz. Er hatte vor sich die lange Nacht und beliebig viel Zeit, um sich alles vorzustellen, was sein künftiges Leben erfüllen sollte, er konnte geduldig einen Gedanken suchen, der ihm bei der Durchfahrt durch einen Bahnhof entglitten war, sich aber wiederfinden und verfolgen, sich endlos weiterspinnen ließ, um dann im Tanz der glitzernden Fäden aus
     
     Regen und Licht sich erneut zu verlieren. Mersault suchte nach dem Wort, der Wendung, die die Hoffnung seines Herzens ausdrücken, seiner Unruhe ein Ende bereiten würde. In dem Zustand der Schwäche, in dem er sich befand, verlangte er nach Formeln. Die Nacht und der Tag gingen in diesem hartnäckigen Kampf mit dem Wort, dem Bild dahin, von denen fortan die Färbung seines Blicks auf die Welt, der zart bewegte oder quälende Traum, den er von seiner Zukunft hegte, abhängen würden. Er schloß die Augen. Zum Leben braucht man Zeit. Wie jedes Kunstwerk fordert es von einem, daß man darüber nachdenkt. Mersault dachte an sein Leben, er ließ sein verwirrtes Bewußtsein und seinen Willen zum Glück in einem Eisenbahnabteil schweifen, das für ihn alle diese Tage innerhalb von Europa etwas war wie eine jener Zellen, in denen der Mensch den Menschen durch das kennenlernt, was stärker ist als er.
     
    Am Morgen des zweiten Tages verlangsamte der Zug spürbar die Fahrt, obwohl er sich noch auf freiem Feld befand. Es waren noch ein paar Stunden bis Breslau, und das erste Tageslicht fiel auf die weite baumlose lehmige schlesische Ebene, die unter einem bedeckten und von Regen geschwellten Himmel dalag. So weit man sehen konnte, flogen Scharen großer Vögel mit schwarzen glänzenden Flügeln in regelmäßigen Abständen nur ein paar Meter über dem Boden dahin, offenbar außerstande, sich unter dem Himmel, der wie eine Steinplatte lastete, höher zu erheben. Sie kreisten mit langsamen, schweren Flügelschlägen, und manchmal trennte sich einer von seiner Schar, strich so dicht über den Boden hin, daß er eins mit ihm zu werden schien und entfernte sich im gleichen schwerfälligen Flug unendlich weit, so weit, daß er sich wie ein schwarzer Punkt vom Horizont abhob. Mersault hatte mit den Händen die beschlagene Scheibe abgewischt und schaute begierig durch die langen Streifen, die seine Finger auf dem Glas zurückgelassen hatten. Zwischen diesem trostlosen Stück Erde und dem fahlen Himmel erstand für ihn das Bild einer undankbaren Welt, in der er endlich zu sich selbst zurückfand. Auf dieser zur Verzweiflung der Unschuld gezwungenen Erde faßte er, ein verloRenér
     
     Reisender in einer primitiven Umwelt, wieder Fuß und stellte mit seiner an die Brust gepreßten Faust und seinem an der Fensterscheibe flachgedrückten Gesicht die Energie seiner Rückkehr zu sich selber und zu der Gewißheit aller Möglichkeiten der Größe dar, die in ihm schlummerten. Er hätte in diesem Schlamm vergehen, durch dieses Moorbad in die Erde zurückkehren und dann, hoch aufgerichtet in dieser grenzenlosen Ebene, lehmbedeckt und mit weit geöffneten Armen vor dem schwammigen rußigen Himmel, gleichsam dem verzweiflungsvollen und grandiosen Symbol des Lebens gegenüberstehend, seine Solidarität mit der Welt in dem, was sie an

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