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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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einem Lächeln. Unvermittelt richtete sie sich in ihrem Bett auf und küßte ihn auf die Wangen. Dieser Kuß, der erste vermutlich, den sie aus vollem Herzen gab, ließ in Mersault eine Regung von Wärme aufsteigen. Er legte sie nieder, deckte sie gut zu, ging zur Tür und blickte noch einmal lächelnd zurück. «Adieu», sagte er. Das Mädchen sah ihm mit großen Augen über das Bettuch hinweg, das ihr bis an die Nase reichte, nach und ließ ihn gehen, ohne daß sie noch etwas zu sagen fand.
     
    Ein paar Tage darauf bekam Mersault eine Antwort aus Algier:
     
    Lieber Patrice,
    wir sind in Algier. Ihre Kinder wären sehr glücklich, Sie wie derzusehen. Wenn Sie nirgends etwas festhält, kommen Sie doch nach Algier, wir können Sie hier im Haus unterbringen. Wir sind hier sehr glücklich. Man schämt sich natürlich ein biß chen, aber eigentlich nur, weil es sich gehört und wegen der Vorurteile. Wenn Sie Lust haben, glücklich zu sein, versuchen   Sie es doch hier. Das ist besser, als den weiterdienenden Unter offizier zu spielen. Wir bieten unsere Stirnen Ihren väterlichen Küssen dar.
    Rose, Claire, Catherine.

    PS: Catherine protestiert gegen das Wort «väterlich». Catherine wohnt bei uns. Sie wird, wenn Sie wollen, Ihre dritte Tochter
     
    Er beschieß, über Genua nach Algier zurückzufahren. Wie andere das Bedürfnis nach Einsamkeit haben, bevor sie ihre großen Entschlüsse fassen und den wesentlichen Einsatz ihres Lebens wagen, hatte er, mit Einsamkeit und Entfremdung vollgesogen wie mit Gift, das Verlangen, in der Freundschaft und im Vertrauen Zuflucht zu suchen und eine scheinbare Sicherheit zu genießen, bevor er sein Spiel begann.
     
    In dem Zug, der ihn quer durch Norditalien nach Genua führte, lauschte er auf die tausend Stimmen, die in ihm dem Glück entgegenjubelten. Von der ersten Zypresse an, die sich kerzengerade auf dem reinen Boden erhob, hatte er nachgegeben. Er spürte noch immer Schwäche und Fieber in sich. Aber etwas in ihm hatte sich erweicht, entspannt. Bald, je weiter die Sonne in ihrem Tageslauf sich voranbewegte und je näher das Meer rückte, verband sich unter diesem weiten glühenden, flimmernden Himmel, von dem auf die zitternden Ölbäume Fluten von Licht und Luft niederströmten, der Überschwang, der die Welt aufwühlte, mit dem Hochgefühl seines Herzens. Das Rattern des Zuges, das kindische Geschwätz rings um ihn her in dem überfüllten Abteil, alles Lachen und Singen, das ihn umgab, rhythmisierte und begleitete eine Art inneren Tanz, der ihn während der Stunden, in denen er unbeweglich dasaß, an die äußersten Winkel der Erde trug und ihn schließlich, von Jubel erfüllt und überwältigt, in ein tosendes Genua stürzte, das an seinem Golf und unter seinem Himmel, wo bis zum Abend Verlangen und Trägheit im Streit miteinander lagen, vor Gesundheit strotzte. Er hatte Durst, Hunger zu lieben, zu genießen und Küsse zu tauschen. Die Götter, die eine Glut in ihm entfachten, warfen ihn in einem Hafenwinkel ins Meer, wo die Mischung aus Teer und Salz auf ihn einströmte und er sich schwimmend im Räume aufgelöst fühlte. Danach verlor er sich in den engen und von Gerüchen erfüllten Gassen des alten Viertels, ließ zu, daß die Farben ihn schreiend überfielen, der Himmel sich über den Häusern unter seiner Sonnenlast verzehrte und an seiner Stelle die Katzen zwischen Unrat und Sonnenwärme schliefen. Er ging durch die Straße, die Genua beherrscht, und ließ das ganze mit Düften und Lichtern beladene Meer in langem Schwellen zu sich aufsteigen. Er schloß die Augen, während er den heißen Stein umklammerte, auf dem er saß, und öffnete sie dann wieder über dieser Stadt, aus der ihm in Form eines aufregend schlechten Geschmacks ein Überschwang an Leben entgegenschlug. Auch an den folgenden Tagen setzte er sich gern auf die Steinmauer, die zum Hafen hinunterführt, und sah mittags die Mädchen vorübergehen, die aus den Büros auf die Hafenquais strömen. Mit Sandalen an den Füßen, die Brüste frei unter den leuchtenden leichten Kleidern, ließen sie Mersault mit einem trockenen Gefühl im Mund und seinem von einem Verlangen, in dem er zugleich Freiheit und Rechtfertigung entdeckte, klopfenden Herzen zurück. Am Abend begegnete er den gleichen Frauen auf den Straßen und ging mit der Hitze eines brünstigen Tiers im Leib und verkrampft von einer Gier, die sich mit wilder Süße in ihm regte, hinter ihnen her. Zwei Tage lang glühte er in dieser unmenschlichen

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