Der glückliche Tod
Abstoßendstem besaß, bekräftigen und sich zum Komplicen dieses Lebens bis in seine Undankbarkeit und in seinen Schmutz hinein erklären mögen. Die ungeheure Lebenskraft, die ihn umtrieb, brach zum ersten Mal seit seiner Abreise endlich aus ihm hervor. Mersault preßte seine Tränen und seine Lippen an das kalte Glas. Die Scheibe trübte sich wieder, die Ebene verschwand.
Ein paar Stunden darauf kam er in Breslau an. Von weitem kam ihm die Stadt wie ein Wald von Fabrikschornsteinen und hohen Kirchtürmen vor. Aus der Nähe gesehen bestand sie aus Ziegeln und geschwärzten Steinen; Männer, die Mützen mit kurzen Schirmen trugen, gingen langsam ihres Weges. Er folgte ihnen und verbrachte den Vormittag in einem ArbeiterCafé. Ein junger Mann spielte dort auf der Harmonika brave und schwerfällige harmlose Melodien, bei deren Klang die Seele sich erholte. Mersault beschloß, nach dem Kauf eines Kammes sich wieder nach Süden zu wenden. Am Tag darauf war er in Wien. Er verschlief einen Teil des Tages und die ganze Nacht. Als er aufwachte, war sein Fieber vollkommen verschwunden. Er aß sich beim Frühstück an weichgekochten Eiern und an süßer Sahne übersatt und trat mit einem leichten Gefühl von Übelkeit in einen Morgen hinaus, in dem Sonnenschein und Regen miteinander abwechselten. Wien war eine erfrischende Stadt: es gab hier nichts zu besichtigen. Der allzu große Stephansdom langweilte ihn. Er zog ihm die gegenüberliegenden Kaffeehäuser und für den Abend ein kleines Tanzlokal am Donaukanal vor.
Im Laufe des Tages erging er sich auf dem Ring, in der Pracht schöner Auslagen und eleganter Frauen. Eine Zeitlang genoß er diese oberflächliche, üppige Szenerie, die in der wenigst natürlichen Stadt der Welt den Menschen von sich selber trennt. Aber die Frauen waren schön, die Blumen prangten mit leuchtenden Farben in den Gärten, und auf dem Ring fiel Mersault, als er gegen Abend im Strom der glänzenden, munteren Menge dahintrieb, auf dem First der Prunkgebäude das hochmütige Aufbäumen der steinernen Pferde vor dem roten Abendhimmel in die Augen. Da erinnerte er sich seiner Freundinnen Rose und Claire. Zum ersten Mal nach seinem Aufbruch schrieb er ihnen einen Brief. In Wirklichkeit lud er auf das Papier nur die allzu große Last seines Schweigens ab:
Liebe Kinder,
ich schreibe Euch aus Wien. Ich weiß nicht, was aus Euch geworden ist. Ich selber verdiene durch Reisen meinen Lebens unterhalt. Mit bitterem Herzen habe ich viel Schönes gesehen. Hier hat die Zivilisation die Schönheit überwuchert. Das hat etwas Ausruhendes. Ich besuche keine Kirchen oder histori schen Stätten. Ich gehe auf dem Ring spazieren. Und wenn der Abendhimmel über den pompösen Theatern und Palästen steht, weckt das blinde Aufbäumen der steinernen Pferde vor dem Rot des Sonnenuntergangs eine seltsame Mischung von Bitterkeit und Glück in mir. Am Morgen esse ich gekochte Eier und Sahne. Ich stehe spät auf, im Hotel werde ich sehr zuvorkommend behandelt, der Stil der Oberkellner, denen man die gute Ernäh rung ansieht (o dieses Schlagobers!), macht Eindruck auf mich. Es gibt hier gutes Theater und hübsche Frauen. Was fehlt, ist einzig wirklicher Sonnenschein.
Was tut Ihr? Berichtet von Euch und von der Sonne einem Unglücklichen, den nichts irgendwo festzuhalten vermag und der hiermit verbleibt als Euer getreuer
Patrice Mersault.
An diesem Abend, nachdem er geschrieben hatte, ging er wieder in das Tanzlokal. Er hatte sich für den Abend zuvor bei einer der Animierdamen vormerken lassen, Helen, die etwas Französisch konnte und sein schlechtes Deutsch verstand. Als sie um zwei Uhr morgens das Tanzlokal verließen, begleitete er sie nach Hause, schlief auf die korrekteste Weise mit ihr und fand sich am Morgen nackt in einem fremden Bett, hinter dem Rücken von Helen, deren schmale Hüften und breite Schultern er uninteressiert, aber wohlgelaunt bewunderte. Er wollte gehen, ohne sie aufzuwecken, und schob einen Geldschein in einen ihrer Schuhe. Als er schon an der Tür war, hörte er sie rufen: «Aber Schatz, du hast dich wohl geirrt.» Er ging zum Bett zurück. Er hatte sich tatsächlich geirrt. Da er mit dem österreichischen Geld schlecht Bescheid wußte, hatte er ihr einen Schein zu fünfhundert Schilling statt einen zu hundert dagelassen. «Nein», sagte er lächelnd, «das ist für dich. Du bist sehr nett gewesen.» Helens sommersprossiges Gesicht unter dem blonden wirren Haar erstrahlte von
Weitere Kostenlose Bücher