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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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diesem Meer und einem solchen Hals unter meinen Fingern.»
     
    Er hatte sich vom Fenster abgewandt und preßte seine Hand auf Luciennes Nacken. Sie schwieg.
     
    «Empfindest du wenigstens», sagte sie, ohne ihn anzusehen, «so etwas wie Freundschaft für mich?»
     
    Patrice kniete neben ihr nieder und vergrub seine Zähne in ihre Schulter. «Freundschaft, ja, so wie ich Freundschaft für die Nacht empfinde. Du bist die Freude meiner Augen und weißt nicht, welchen großen Platz diese Freude in meinem Herzen einnehmen kann.»
     
    Am nächsten Tag reiste sie ab.
     
    Unfähig, mit sich selber fertig zu werden, traf Mersault am übernächsten Tag im Auto in Algier ein. Er ging zuerst in das Haus vor der Welt. Seine Freundinnen versprachen, ihn am Monatsende zu besuchen. Dann wollte er sein altes Viertel Wiedersehen.
     
    Das Haus war an einen Cafébesitzer vermietet. Er erkundigte sich nach dem Faßbinder, aber niemand konnte ihm Auskunft geben. Jemand glaubte zu wissen, daß er nach Paris gegangen sei, um dort Arbeit zu suchen. Mersault ging spazieren. Im Restaurant — Céleste war alt geworden — war nur wenig los. René war noch immer da mit seiner Tuberkulose und seiner ernsten Miene. Alle freuten sich über das Wiedersehen mit Patrice, und auch er selbst fühlte sich durch diese Begegnung gerührt.
     
    «O Mersault», sagte Céleste zu ihm, «du hast dich nicht verändert. Du bleibst immer derselbe, o ja.»
    «Ja», sagte Mersault.
     
     
     Er bewunderte die sonderbare Verblendung der Menschen, die doch recht gut wissen, was alles sich in ihnen selbst verändert, aber ihren Freunden ein für allemal das Bild, das sie sich von ihnen gemacht haben, aufzwingen wollen. Ihn selbst beurteilte man nach dem, was er gewesen war. Wie ein Hund seinen Charakter nicht ändert, sind auch die Menschen Hunde für den anderen Menschen. Und so gut auch Céleste, René und die anderen ihn gekannt hatten, wurde er ihnen doch so fremd und blieb er so verschlossen für sie wie ein unbewohnter Planet. Er verließ sie indessen mit freundschaftlichen Gefühlen. Aus dem Restaurant kommend, stieß er auf Marthe. Bei ihrem Anblick wurde er sich bewußt, daß er sie fast vollkommen vergessen hatte und doch auf eine Begegnung mit ihr hoffte. Sie sah immer noch aus wie eine gemalte Göttin. Er spürte ein dumpfes Verlangen nach ihr, ohne doch recht davon überzeugt zu sein. Sie gingen ein Stück zusammen.
     
    «O Patrice», sagte sie. «Ich bin ja so froh. Was treibst du denn?»
    «Nichts, wie du siehst. Ich wohne auf dem Land.»
    «Das ist fabelhaft. Davon habe ich immer geträumt.»
    Und nach einer Pause setzte sie hinzu:
    «Du weißt, ich bin dir nicht böse.»
    «Ja», antwortete Patrice lachend, «du hast dich inzwischen getröstet.»
    Da schlug Marthe einen Ton an, den er nicht an ihr kannte.
    «Jetzt sei nicht gemein, verstehst du? Ich wußte ganz genau, daß es einmal so enden würde. Du warst ein komischer Kerl. Und ich nichts weiter als ein kleines Mädchen, wie du selber sagtest. Als es dann soweit war, habe ich natürlich getobt, wie du dir denken kannst. Aber schließlich habe ich mir gesagt, daß du einfach unglücklich bist. Und komischerweise hat mich das, was zwischen uns war — ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll —, zum ersten Mal zugleich glücklich und traurig gemacht.»
     
    Überrascht sah Mersault sie an. Er überlegte sich plötzlich, daß Marthe sich eigentlich ihm gegenüber immer sehr nett verhalten hatte. Sie hatte ihn genommen, wie er war, und ihm über seine Einsamkeit gut hinweggeholfen. Er war ungerecht gegen sie gewesen. Während seine Phantasie und seine Eitelkeit ihr einen zu hohen Wert beimaßen, hatte sein Stolz ihr nicht genug davon zuerkannt. Er wurde sich klar, daß wir uns paradoxerweise über die Menschen, die wir lieben, immer zweimal täuschen, anfangs zu ihrem Vorteil und später zu ihrem Schaden. Er begriff heute, daß Marthe sich ihm gegenüber ganz natürlich gegeben hatte — daß sie gewesen war, was sie eben war — und daß er ihr aus diesem Grunde viel schuldete. Es regnete kaum — nur gerade soviel, daß die Lichter der Straße dadurch vervielfältigt und weiter verstreut wurden. Durch die Tropfen aus Licht und Regen sah er die plötzlich ernst gewordenen Züge Marthes und fühlte sich von einer Dankbarkeit durchflutet, die sich gern in einem Redestrom kundgetan hätte, aber sich nicht recht in Worten zu äußern vermochte und die er zu anderen Zeiten möglicherweise

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