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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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für den übrigen Tag. Die Bäder strengten ihn im übrigen an. Zugleich aber gaben sie durch die Schwäche und Energie, die sie ihm gleichzeitig hinterließen, seinem ganzen Tag einen Zug von Unbekümmertheit und beglückender Mattigkeit. Dennoch empfand er seine Tage als zu lang. Er hatte seine Zeit noch nicht von einem Gerüst aus Gewohnheiten abgelöst, die ihm als Anhaltspunkte dienten. Er hatte nichts zu tun, und die Zeit nahm ihr ganzes Ausmaß an. Jede Minute erhielt von neuem den Charakter eines Wunders, er aber sah noch nicht ein solches in ihr. Ebenso wie beim Reisen die Tage nie zu enden scheinen, während umgekehrt im Büro der Übergang von einem Montag zum nächsten sich blitzschnell vollzieht, versuchte er, der äußeren Stützen beraubt, diese noch in einem Dasein wiederzufinden, das damit gleichwohl nichts anzufangen wußte. Manchmal griff er nach einer Uhr, sah den Zeiger von einer Zahl zur anderen fortschreiten und wunderte sich, daß fünf Minuten ihm dann unendlich lang vorkamen. Zweifellos eröffnete ihm diese Uhr den mühseligen, qualvollen Weg, der zu der höchsten aller Künste führt, nämlich der, nichts zu tun. Er lernte spazierenzugehen. Am Nachmittag wanderte er zuweilen am Strand bis zu den Ruinen an der anderen Spitze. Er legte sich dann inmitten der Wermutstauden nieder, und während seine Hand auf einem heißen Stein ruhte, öffnete er seine Augen und sein Herz für die überwältigende Größe dieses von Hitze trunkenen Himmels. Er paßte das Pulsen seines Blutes dem heftigen Pulsen der ZweiUhr-Sonne an, und versunken in wilde Pflanzendüfte und schläfriges Insektengesumm sah er den Himmel von Weiß zu reinem Blau übergehen, sich dann bald zu einem grünen Ton klären und seine Süße und Zärtlichkeit über die noch tagesheißen Ruinen hinströmen. Dann kehrte er zu früher Stunde heim und ging schlafen. In diesem Ablauf von einer Sonne zur anderen reihten sich seine Tage in einem Rhythmus auf, dessen Langsamkeit und Seltsamkeit ihm ebenso zur Notwendigkeit wurden wie einstmals sein Büro, sein Restaurant und sein Schlaf. In beiden Fällen war er sich dessen fast überhaupt nicht bewußt. Jetzt aber spürte er in seinen klarsichtigen Stunden wenigstens, daß die Zeit ihm gehörte und daß in dem kurzen Abstand, der zwischen dem roten und dem grünen Meer lag, etwas Ewiges in jeder Sekunde sich für ihn abzeichnete. Ebensowenig wie ein übermenschliches Glück sah er eine Ewigkeit außerhalb der Kurve der Tage vor sich. Das Glück war menschlich und die Ewigkeit alltäglich. Es kam einzig darauf an, daß man in aller Bescheidenheit sein Herz auf den Rhythmus der Tage abzustimmen verstand, anstatt diesen den Figurationen unserer Hoffnung unterordnen zu wollen.
     
    Ebenso wie man in der Kunst haltzumachen wissen muß, wie es einen Moment gibt, da eine Skulptur nicht mehr angerührt werden darf und wie in dieser Hinsicht gewollte Unintelligenz einem Künstler immer von größerem Nutzen ist als alle noch so subtilen Hilfsmittel klarer Einsicht, so braucht man auch ein Quentchen Unintelligenz, um ein Leben in Glück zu seiner Vollendung zu führen. Wer es nicht hat, sollte es sich erwerben.
     
    Sonntags übrigens spielte Mersault Billard mit Pérez. Pérez hatte nur einen Arm. Der andere war über dem Ellbogen amputiert. Er spielte infolgedessen auf eine absonderliche Art; mit vorgewölbtem Oberkörper stützte er seinen Stumpf auf das Queue. Wenn er frühmorgens angeln ging, bewunderte Mersault immer die Geschicklichkeit des alten Fischers, mit der er das linke Ruder unter die Achsel klemmte und im Boot stehend mit quer gestelltem Körper das eine Ruder mit der Brust vorwärtsstieß, das andere mit der Hand. Die beiden verstanden sich sehr gut. Pérez bereitete Tintenfische mit pikanter Sauce. Er dünstete sie in ihrem eigenen Saft, und Mersault teilte sich mit ihm in die schwarze, glühendheiße Brühe, die beide in der Küche des Fischers aus der verrußten Pfanne mit Brot auftunkten. Pérez sprach im übrigen nie. Mersault war ihm dankbar für diese Gabe des Schweigens. Manchmal, am Morgen nach dem Bad, sah er ihn sein Boot ins Meer schieben. Er trat dann zu ihm:
     
    «Kann ich mitfahren, Pérez?»
    «Steig ein», sagte der andere nur.
     
    Sie befestigten dann die Riemen an zwei verschiedenen Klampen und ruderten im Takt, wobei sie achtgaben (Mersault wenigstens), mit den Füßen nicht in die Angelhaken an der Reihenleine zu geraten. Dann fischten sie, und Mersault

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