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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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für Liebe gehalten hätte. Tatsächlich fand er nur den armseligen Satz: «Du weißt, ich habe dich sehr gern. Und auch noch jetzt, wenn ich etwas tun kann ...»
     
    Sie lächelte.
     
    «Nein», sagte sie. «Ich bin jung. Ich lasse nichts aus, wie du dir denken kannst.»
     
    Er nickte zustimmend. Welcher Abstand zwischen ihnen beiden, und zugleich welch ein geheimes Verstehen! Vor ihrer Wohnung trennte er sich von ihr. Sie hatte ihren Schirm aufgespannt. Sie sagte:
     
    «Ich hoffe, man sieht sich wieder.»
    «Ja», sagte Mersault. Sie lächelte etwas traurig. «Oh», meinte Mersault darauf, «jetzt machst du dein Kleinmädchengesicht. »
     
    Sie war unter die Tür getreten und schloß ihren Regenschirm. Patrice reichte ihr die Hand und lächelte seinerseits: «Auf Wiedersehen, Traumbild.» Sie drückte sie rasch, küßte ihn jäh auf beide Wangen und eilte die Treppe hinauf, Mersault, der im Regen stehengeblieben war, fühlte auf seinem Gesicht noch Marthes kalte Nase und ihre warmen Lippen. Und dieser so plötzlich gegebene leidenschaftslose Kuß hatte etwas von der Reinheit jenes anderen, den die kleine sommersprossige Prostituierte in Wien ihm gegeben hatte.
     
    Dann jedoch ging er zu Lucienne, schlief mit ihr und bat sie am nächsten Tag, mit ihm auf den Boulevards spazierenzugehen. Als sie auf die Straße traten, war es schon beinahe Mittag. Orangefarbene Boote trockneten in der Sonne wie in Viertel geschnittene Früchte. Eine zwiefache Wolke von Tauben und Schatten senkte sich auf die Quais herab, um gleich darauf in einer langsamen Kurve wieder aufzusteigen. Die glühende Sonne erwärmte einen wohlig. Mersault sah dem schwarz-roten Postboot nach, das langsam aus der Durchfahrt hinausglitt, die Fahrt beschleunigte und dann sich langsam dem Lichtgürtel zuwendete, der sich schäumend an der Stelle entlangzog, wo Himmel und Meer sich begegneten. Wer einen Aufbruch mitansieht, erlebt dabei jedesmal eine bittere Süße. «Die haben Glück», meinte Lucienne. «Ja», sagte Patrice. Er dachte «Nein»  — oder beneidete doch jedenfalls niemanden um diese Chance. Auch für ihn behielten Neuanfänge, Abreisen, alle Formen neuen Lebens ihre Anziehungskraft. Aber er wußte, daß das Glück nur für Träge und Ohnmächtige darin beschlossen schien. Das Glück setzte eine Wahl voraus und innerhalb dieser Wahl einen ausgewogenen,- klarblickenden Willen. Er hörte Zagreus sagen: «Nicht mit dem Willen zum Verzicht, sondern mit dem Willen zum Glück.» Er hatte seinen Arm um Lucienne gelegt, und seine Hand ruhte auf ihrer warmen schmiegsamen Frauenbrust.
     
    Am gleichen Abend, in dem Auto, das ihn zum Chenoua zurückführte, spürte Mersault beim Anblick der steigenden Flut und der plötzlich auftauchenden Hügel in sich eine große Stille. Durch einige Scheinversuche des Neubeginns, durch den bewußten Rückblick auf sein vergangenes Dasein hatte er sich klargemacht, was er sein wollte und was nicht. Diese Tage der Ablenkung, deren er sich geschämt hatte, hielt er jetzt für ein zwar gefährliches, aber doch notwendiges Unternehmen. Er hätte dabei scheitern und so seine einzige Rechtfertigung vereiteln können. Aber ebenso mußte man sich auch allem anzupassen wissen.
     
    Zwischen zweimaligem Bremsen machte sich Mersault in seinem Innern die zugleich demütigende und unschätzbare Wahrheit zu eigen, daß das besondere Glück, das er suchte, zur Voraussetzung hatte, daß er morgens früh aufstand, regelmäßig badete und bewußte Körperpflege trieb. Er fuhr sehr schnell, entschlossen, seinen gegenwärtigen Schwung zu nutzen, um sich in einem Leben wohnlich einzurichten, das künftig keine Anstrengungen mehr von ihm verlangen würde, und um den Rhythmus seiner Atmung mit dem Verborgenen der Zeit und des Lebens in Einklang zu bringen.
     
    Am folgenden Tag stand er früh auf und stieg zum Meer hinab. Es war schon hell und der Morgen bereits mit dem Schwirren und Zwitschern der Vögel durchsetzt. Aber die Sonne streifte nur eben erst die runde Linie des Horizonts, und als Mersault sich in das noch glanzlose Wasser gleiten ließ, kam es ihm vor, als schwimme er in einem unentschiedenen Dunkel, bis er bei höhersteigender Sonne seine Arme in die rot und golden schimmernde, eisige Flut versenkte. Er kam gleich wieder heraus und ging nach Hause. Er fühlte seinen Körper erfrischt und zu allem bereit. An den folgenden Morgen ging er schon kurz vor Sonnenaufgang hinunter. Und dieser erste Entschluß war entscheidend

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