Der glückliche Tod
dieser Bewegung. Von dem Tage an, da er auf dem kleinen Platz in der Nähe von Zagreus' Villa hatte niesen müssen, bis zu dieser Stunde hatte sein Körper ihm treu gedient und ihn der Welt geöffnet. Zugleich aber führte er ein von dem Menschen, dem er als Erscheinung diente, losgelöstes, unabhängiges Leben. Innerhalb dieser wenigen Jahre hatte er einen langsamen Verfall betrieben. Jetzt hatte er seine Kurve vollendet und hielt sich bereit, Mersault zu verlassen und ihn der Welt zurückzugeben. In diesem jähen Erschauern aber, dessen sich Mersault bewußt war, deutete er noch einmal jenes enge Zusammenwirken an, dem sie beide schon so viele Freuden verdankten. Nur in diesem Sinn empfand Mersault auch dieses Frösteln noch als Freude. Bewußt, das mußte man sein, ohne Selbsttäuschung, ohne Feigheit — allein mit seinem Körper — die Augen offen auf den Tod gerichtet. Es war eine Sache, die unter Männern ausgetragen wurde. Nichts, keine Liebe und keine schmückende Umgebung, sondern nur eine unendliche Wüste aus Einsamkeit und Glück — hier spielte Mersault seine letzten Karten aus. Er fühlte, wie sein Atem schwächer wurde. Er sog einen Mundvoll Luft ein, und bei dieser Bewegung begannen alle Orgeln seiner Brust zu rauschen. Er spürte, daß seine Waden sehr kalt und seine Hände fühllos waren. Der Tag brach an.
Der erwachende Morgen war voll von Vogelgezwitscher und Kühle. Die Sonne ging schnell auf und stand im Nu über dem Horizont. Die Erde bedeckte sich mit Gold und mit Hitze. Am Morgen besprühten sich Himmel und Meer mit großen flimmernden Flecken von blauen und gelben Lichtern. Ein leichter Wind kam auf, und durch das Fenster drang Salzluft herein und kühlte Mersaults Hände. Um die Mittagszeit legte sich der Wind, der Tag brach auf wie eine reife Frucht und ergoß über die ganze Weite der Welt einen warmen erstickenden Saft, während die Grillen ihr Konzert anstimmten. Das Meer überzog sich damit wie mit goldgelbem Öl und sandte auf die von Sonnenglut überwältigte Erde einen warmen Hauch, der sie öffnete und aus ihr die Düfte von Wermut, Rosmarin und heißen Steinen aufsteigen ließ. Von seinem Bett aus wurde Mersault dieses plötzlichen Stoßes und dieser Darbringung gewahr, und er richtete die weitgeöffneten Augen auf das endlose, gerundete, gelbrot schimmernde, vom Lächeln seiner Götter belebte Meer. Er wurde sich plötzlich bewußt, daß er auf seinem Bett saß und daß Luciennes Gesicht ganz nah an dem seinen war. In ihm stieg langsam, vom Leib her, ein Kiesel auf, der nach und nach den
Weg in seine Kehle nahm. Er atmete immer rascher, er nahm jede Möglichkeit eines Luftdurchgangs wahr. Immer höher stieg der Stein in ihm. Er sah Lucienne an. Er lächelte ohne Verkrampfung, und auch dieses Lächeln kam von innen her. Er sank auf sein Lager zurück und fühlte weiter das langsame Aufsteigen in sich. Er schaute auf Luciennes geschwellte Lippen und, hinter ihr, auf das Lächeln der Erde. Er umfaßte beide mit dem gleichen Blick und mit dem gleichen Verlangen.
«In einer Minute, einer Sekunde», dachte er. Das Steigen hielt inne. Und ein Stein zwischen Steinen, ging er in der Freude seines Herzens wieder in die Wahrheit der unbeweglichen Welten ein.
Nachwort
Ich möchte in dieser Untersuchung über die Entstehung des Romans «Der glückliche Tod» nicht näher auf die biographischen Fakten eingehen. Das Wesentliche und Wissenswerte hat bereits Roger Quilliot in den beiden Bänden der Pleiade-Ausgabe mitgeteilt. 1 «Der glückliche Tod» basiert auf Erinnerungen an das Armenviertel Belcourt, wo Camus seine Kindheit verbracht hat, an seine Beschäftigung in einer Schiffsmaklerei, an seine Reise nach Mitteleuropa im Sommer 1936, seine Italienfahrten 1936 und 1937, seine Sanatoriumsaufenthalte, an sein Leben im Haus Fichu, dem «Haus vor der Welt», oberhalb von Algier, wo er sich im November 1936 niedergelassen hatte. Ebenso haben einige seiner Freundschaften und Liebesbeziehungen hier ihren Niederschlag gefunden, so zum Beispiel die zwei Ehejahre mit Simone Hie und der Bruch mit ihr in Salzburg nach einer stürmischen Auseinandersetzung. Eine andere weibliche Gestalt, die in dem Roman eine wichtige Rolle spielt, ist nicht ohne weiteres zu identifizieren. Einige genauere Hinweise sind im Anmerkungsteil zu finden. Es bleibt eine Reihe von Fragen, die vielleicht durch wissenschaftliche Untersuchungen eines Tages beantwortet werden können. Wer war zum
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