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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Tieres betrachtet hatte, Furcht zu haben, bedeutete, Furcht vor dem Leben zu haben. Die Furcht zu sterben rechtfertigte das grenzenlose Festhalten an dem, was im Menschen lebendig ist. Und alle diejenigen, die nicht die entscheidenden Handlungen vollzogen hatten, um ihr Leben zu intensivieren, alle diejenigen, die die Ohnmacht fürchteten und zugleich priesen, hatten Angst vor dem Tod, weil er die endgültige Bestätigung eines Lebens bedeutete, das sie nicht mitgelebt
     
     hatten. Sie hatten nicht genug gelebt, da sie nie gelebt hatten, und der Tod war für sie gleichsam die Geste, die einen Reisenden, der vergebens versucht hat, seinen Durst zu stillen, für immer des Wassers beraubt. Für andere aber war er die schicksalhafte, dabei aber zärtliche Gebärde, die auslöscht und verneint und ebenso zur Dankbarkeit wie zur Auflehnung verführt. Einen Tag und eine Nacht verbrachte er auf dem Bett sitzend, die Arme auf den Nachttisch gestützt und den Kopf in den Händen vergraben. Im Liegen war es ihm unmöglich zu atmen. Lucienne saß neben ihm und beobachtete ihn schweigend. Mersault sah sie manchmal an. Er dachte daran, daß nach ihm der erste, der den Arm um sie legte, sie auch schon bereit finden würde. Ganz in ihrer Körperlichkeit beschlossen, würde sie verfügbar sein, wie sie ihm verfügbar gewesen war, und die Welt würde weiter-, bestehen in der Wärme ihrer halbgeöffneten Lippen. Manchmal hob er den Kopf und blickte durch das Fenster. Er war nicht rasiert, seine rotgeränderten, tief eingesunkenen Augen hatten ihren dunklen Glanz verloren, und seine hohlen, bleichen Wangen unter dem bläulichen Barthaar verwandelten ihn völlig.
     
    Sein Blick, der wie der einer kranken Katze war, haftete an den Fenstern. Er holte tief Luft und wendete sich um zu Lucienne. Dann lächelte er. Und in diesem Gesicht, das überall auseinanderfloß und seine Festigkeit verlor, schuf dieses harte wissende Lächeln eine neue Kraft, einen beschwingten Ernst.
     
    «Geht es?» fragte Lucienne mit ihrer tonlosen Stimme.
    «Ja.» Er kehrte in das Dunkel seiner Arme zurück. An der Grenze seiner Kraft und seines Widerstandes angelangt, traf er zum ersten Mal in seinem Innern auf Roland Zagreus, dessen Lächeln ihn zu Anfang so sehr erbittert hatte. Sein kurzer, rasch gehender Atem schlug sich feucht auf der Marmorplatte des Nachttischs nieder und sandte ihm von da aus seine Wärme zurück. Und in dieser ungesunden Schwüle, die zu ihm aufstieg, empfand er um so stärker die Eiseskälte in seinen Fingerspitzen und Zehen. Selbst darin offenbarte sich noch Leben, und in jenem Übergang vom Kalten zum Warmen fand er das Hochgefühl wieder, das Zagreus ergriffen hatte, der «dem Leben dafür dankte, daß es ihm noch im Innern zu brennen erlaubte». Er fühlte sich von einer heftigen, brüderlichen Liebe zu diesem Mann erfaßt, dem er sich so fern geglaubt hatte, und er begriff, daß er, indem er ihn tötete, mit ihm eine Vermählung vollzogen hatte, die sie beide für. immer verband. Die mühsam in ihm aufsteigenden Tränen erschienen ihm wie ein Geschmack, aus Leben und Tod gemischt, und er wurde sich klar darüber, daß er beiden gemeinsam war. Und sogar in der Unbeweglichkeit, mit der Zagreus den Tod erwartete, fand er das geheime harte Ebenbild seines eigenen Lebens wieder. Das Fieber trug dazu bei und mit ihm die erhebende Gewißheit, daß er sein Bewußtsein bis zum Ende bewahren und mit offenen Augen sterben werde. Auch Zagreus' Augen waren an jenem Tage geöffnet gewesen, und Tränen waren aus ihnen geflossen. Doch das war nur die letzte Schwäche eines Mannes, der nicht Teil gehabt hatte an seinem Leben. Patrice seinerseits fürchtete diese Schwäche nicht. Aus dem Pochen seines fiebernden Blutes, das immer ein paar Zentimeter vor den Grenzen seines Körpers innehielt, ersah er immerhin, daß diese Schwäche nicht die seine sein würde. Denn er hatte seine Rolle erfüllt, er hatte die einzige Aufgabe des Menschen vollendet, die allein darin besteht, glücklich zu sein. Sicher nicht auf lange Zeit. Doch auf die Zeit kommt es nicht an. Sie kann nur ein Hindernis sein oder ist gar nichts mehr. Er hatte das Hindernis weggeräumt, und es hing wenig davon ab, ob dieser Bruder im Innern, den er in sich erzeugt hatte, zwei oder zwanzig Jahre alt war. Das Glück bestand darin, daß er existierte.
     
    Lucienne stand auf und hüllte Mersaults Schultern, von denen die Decke herabgeglitten war, wieder ein. Er erschauerte leicht unter

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