Der glückliche Tod
Beispiel Lucienne? Oder Roland Zagreus? Oder der Arzt, Doktor Bernard? Sinnvoller, als die biographischen Hintergründe des Romans im einzelnen aufzudecken, schien es mir, die literarische Entstehungsgeschichte zu skizzieren.
l Vgl. auch Germaine Bree:«Camus». Reinbek 1960, und Morvan Lebesque: «Albert Camus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten». Reinbek 1960. (Anm. d. Übers.)
Die erste eindeutige Erwähnung dessen, was später «Der glück liche Tod» werden sollte, findet sich in den «Tagebüchern». Es handelt sich um einen Plan für den Zweiten Teil, der erst im Anschluß an Camus' Reise nach Mitteleuropa entstanden sein kann. Die letzten Skizzen zu «Der glückliche Tod» stammen aus dem Jahre 1938. Man findet den Namen Mersault im Januar 1939 wieder, aber zu diesem Zeitpunkt beschäftigt sich Camus bereits mit der Erzählung «Der Fremde». Folglich muß «Der glückliche Tod» zwischen 1936 und 1938 konzipiert und geschrieben worden sein. Der Roman ist zur gleichen Zeit wie die Urfassung der Essays aus «Licht und Schatten» und die Endfassung der Essays aus «Hochzeit des Lichts» entstanden. Danach folgte die erste Fassung des Dramas «Caligula».
Man kann sich am besten einen Begriff von der Entstehung des Romans machen, wenn man von der Endfassung ausgeht. «Der glückliche Tod» besteht aus zwei Teilen: Der natürliche Tod und Der bewußte Tod. Jeder Teil setzt sich aus fünf Kapiteln zusammen. Aber von insgesamt 140 Schreibmaschinenseiten entfallen auf den Ersten Teil nur 49, also kaum mehr als ein Drittel.
Im Mittelpunkt der Handlung des Ersten Teils steht der Mord an Roland Zagreus. Der Protagonist, Mersault, tötet ihn im ersten Kapitel, bemächtigt sich seines Geldes und zieht sich auf dem Rückweg zu seiner Wohnung eine Erkältung zu. Die folgenden Kapitel enthalten Rückblicke: auf das Alltagsleben Mersaults (Kap. II), auf seine Beziehungen zu Marthe und seine sexuelle Eifersucht (Kap. III), sein langes Gespräch mit Zagreus (Kap. IV) und schließlich auf eine Unterhaltung mit dem Faßbinder Cardona, dessen Leben im Elend geschildert wird (Kap. V). Zusammenfassend läßt sich folgende Fabel herauskristallisieren: Patrice Mersault, ein in beschränkten Verhältnissen lebender kleiner Angestellter, Nachbar eines in noch beschränkteren Verhältnissen lebenden Faßbinders, liebt ein Mädchen, dessen erster Liebhaber der Krüppel Zagreus gewesen ist. Durch ihre Vermittlung lernt er Zagreus kennen, erfährt in Gesprächen mit ihm, wie er sein Vermögen gemacht hat, nutzt dieses Vertrauen aus und ermordet ihn. Darauf begibt er sich auf Reisen, bei angegriffener Gesundheit, aber mit wohlgefüllter Börse.
Die fünf Kapitel des Zweiten Teils (Der bewußte Tod) beschreiben Mersaults Aufenthalt in Prag (Kap. I), den weiteren Verlauf seiner Reise und seine Rückkehr über Genua nach Algier (Kap. II), sein Leben im «Haus vor der Welt» (Kap. III), seinen Aufbruch zum Chenoua, wo er sich in einem Haus am Meer niederläßt (Kap. IV), und schließlich seine Erkrankung an einer Rippenfellentzündung und seinen Tod (Kap. V). Hier wiederum eine Kurzfassung der Fabel: in Prag fühlt Mersault, daß ihn das Glück verläßt; er findet es wieder durch die Rückkehr in den Süden, zur Sonne. In Algier unternimmt er nacheinander zwei Versuche, ein glückliches Leben zu führen: zuerst in der Gemeinschaft mit drei Freundinnen, im «Haus vor der Welt», dann, bei einem entlegenen Dorf am Chenoua, in asketischer Einsamkeit, die nur durch die Besuche seiner Frau Lucienne oder seiner drei Freundinnen unterbrochen wird. Er hat das Glück errungen und hält es, zuletzt im Andenken an Zagreus, bis zu seinem Tode fest.
Dieser kurze Überblick läßt das zentrale Thema des Romans deutlich hervortreten: Wie kann man glücklich sterben? Oder, anders ausgedrückt: Wie kann man so glücklich leben, daß selbst der Tod als Glück empfunden wird? Die Kehrseite 1 dieses glücklichen Lebens und Sterbens wird im Ersten Teil geschildert: Geldmangel, Zeitmangel, die Unfähigkeit, die eigenen Gefühle zu beherrschen. Demgegenüber stellt der Zweite Teil die «richtige», die Lichtseite dar: finanzielle Unabhängigkeit, Zeiteinteilung, Friede des Herzens. Das sind, summarisch, Inhalt und Sinn des Romans, wie er sich in seiner letzten Fassung präsentiert.
l Anspielung auf die Essaysammlung «L'Envers et l'endroit» (dt. «Licht und Schatten»). (Anm. d. Übers.)
Die Gliederung in zwei Teile
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