Der glückliche Tod
daß er einen Grund zum Sterben in dem finden würde, was für ihn der Grund zu leben gewesen war.
Als er aufwachte, war es schon heller Tag, und ein ganzes Volk von Vögeln und Insekten sang und summte in der heißen Luft. Er dachte daran, daß Lucienne an diesem Tag kommen würde. Er war zerschlagen und hatte Mühe, wieder zu seinem Bett zu gelangen. Er hatte Fiebergeschmack im Mund und jene Zerbrechlichkeit in den Gliedern, durch die dem Kranken die Dinge härter und die Menschen erdrückender scheinen. Er ließ Bernard holen. Er kam, wie immer schweigsam und geschäftig, behorchte ihn, und nahm die Brille ab, um die Gläser abzuwischen. «Schlecht», sagte er. Er gab ihm zwei Spritzen. Bei der zweiten fiel Mersault, obwohl er sonst nicht empfindlich war, in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, hielt Bernard sein Handgelenk in der einen, die Uhr in der anderen Hand und blickte auf den ruckweise fortschreitenden Sekundenzeiger. «Da haben Sie es», sagte Bernard. «Eine Ohnmacht von einer Viertelstunde.
Ihr Herz versagt. Bei einem erneuten Anfall werden Sie möglicherweise nicht wieder zu sich kommen.»
Mersault schloß die Augen. Er war erschöpft, seine Lippen waren blutlos und trocken, sein Atem ging pfeifend.
«Bernard», sagte er.
«Ja.»
«Ich will nicht in einer Ohnmacht sterben. Ich möchte klar sehen, verstehen Sie?»
«Ja», sagte Bernard. Er gab ihm ein paar Ampullen. «Wenn Sie sich schwach fühlen, brechen Sie die Spitze ab und schlucken Sie den Inhalt. Es ist Adrenalin.»
Im Hinausgehen stieß Bernard auf Lucienne, die gerade ankam.
«Reizend wie immer», sagte er.
«Patrice ist krank?»
«Ja.»
«Ist es ernst?»
«Nein, es geht ihm sehr gut», sagte Bernard. Und bevor er ging, setzte er hinzu: «Noch eins, ein Rat: lassen Sie ihn so viel wie möglich allein.»
«Aha», sagte Lucienne, «es ist also weiter nichts.»
Den ganzen Tag war Mersault am Ersticken. Zweimal verspürte er die kalte, zähe Leere, die ihn in eine neue Ohnmacht hineinzuziehen drohte, und zweimal enthob ihn das Adrenalin diesem Sturz in die Flut. Den ganzen Tag über blickten seine verdüsterten Augen in die herrliche Landschaft. Gegen vier Uhr zeigte sich ein großes rotes Boot auf dem Meer und wurde allmählich größer, hell glänzend von Sonne, Wasser und Muschelschalen. Es war Pérez, der im Boot stand und mit gleichmäßigen Schlägen ruderte. Die Nacht brach jäh herein. Mersault schloß die Augen, und lächelte seit dem Vortag zum ersten Mal. Er hatte die Zähne nicht auseinandergebracht. Lucienne war seit kurzem in seinem Zimmer; in einer Regung unbestimmter Sorge stürzte sie sich auf ihn und küßte ihn.
«Setz dich», sagte Mersault. «Du kannst bleiben.»
«Sprich nicht», sagte Lucienne. «Das strengt dich an.»
Bernard kam, gab ihm Spritzen und ging. Große rote Wolken strichen langsam über den Himmel hin.
«Als ich ein Kind war», brachte Mersault, tief in sein Kopfkissen vergraben und den Blick zum Himmel gerichtet, mit Mühe hervor, «sagte meine Mutter immer zu mir, das seien die Seelen der Toten, die zum Paradies aufsteigen. Ich wunderte mich, daß ich eine rote Seele haben sollte. Inzwischen weiß ich, daß diese Färbung meist auf Wind schließen läßt. Aber auch das ist etwas Wunderbares.»
Die Nacht sank herab. Es stellten sich Bilder ein. Große phantastische Tiere zogen kopfnickend über Wüstenlandschaften hin. Mersault wischte sie sanft von dem Hintergrund seines Fiebers fort. Nur Zagreus' Gesicht durfte kommen in seiner Blutsbrüderschaft. Der den Tod gegeben hatte, würde nun selber sterben. Und wie damals bei Zagreus war der klare Blick, den er auf das Leben heftete, der Blick eines Mannes. Bislang hatte er gelebt. Jetzt würde man von seinem Leben sprechen können, von dem großen verwüstenden Schwung, der ihn vorangetragen hatte, von der flüchtigen, schöpferischen Poesie des Lebens blieb jetzt nichts mehr übrig als die nackte Wahrheit, das Gegenteil aller Poesie. Jetzt wußte er, welcher von all den Menschen, die er wie jedermann zu Beginn seines Lebens in sich getragen hatte, welches von diesen verschiedenartigen Wesen, die ihre Wurzeln miteinander vermischten, ohne sich selbst zu vermischen, er selber gewesen war: und diese Wahl, die im Menschen das Schicksal schafft, hatte er bewußt und beherzt getroffen. Darin lag sein ganzes Glück im Leben und im Tode. Er begriff jetzt, daß vor diesem Tod, den er stets mit dem panischen Schrecken eines
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