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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Mund Blutgeschmack verspürte. Im Bett schüttelten ihn langanhaltende Schauer. Er fühlte sie von den äußersten Punkten seines Körpers her aufsteigen und sich in seinen Schultern wie zwei eiskalte Wasserläufe verbinden, während seine Zähne über dem Rand der Bettücher, die ihm durchfeuchtet schienen, aufeinanderschlugen. Das Haus kam ihm sehr weitläufig vor, und die vertrauten Geräusche, die er vernahm, wuchsen bis ins Unendliche an, als stießen sie nirgends auf eine Wand, die ihrem Hallen Einhalt gebot. Er hörte das Meer wie einen Wirbel von Wasser und Kieselsteinen, das Raunen der Nacht hinter den großen Fensterscheiben und das Kläffen der Hunde auf entlegenen Höfen. Ihm war heiß, er warf die Decken zurück, zog sie aber gleich wieder herauf, weil ihn fror. In diesem Schwebezustand zwischen zwei Leiden, dieser Schläfrigkeit und dieser Unrast, die ihn dem Schlummer wieder entriß, erkannte er jäh, daß er krank war. Angst befiel ihn bei dem Gedanken, daß er in diesem Zustand von Unbewußtheit und ohne die Fähigkeit, etwas vorauszusehen, etwa sterben könnte. Im Dorf schlug die Uhr der Kirche, ohne daß er die Zahl der Schläge heraushören konnte. Er wollte nicht wie ein Kranker sterben. Für seine Person zumindest wollte er nicht, daß die Krankheit etwas wäre, was sie häufig ist: ein Abnehmen der Kräfte und ein Übergang zum Tod. Was er zudem unbewußt wollte, war die Begegnung seines noch blutvollen, gesunden Lebens mit dem Tode, nicht aber die Konfrontation des Todes und dessen, was selbst schon beinahe tot war. Er stand auf, zog mühsam einen Sessel ans Fenster, setzte sich hin und breitete eine Decke über sich. Hinter den leichten Fenstervorhängen konnte er da, wo nicht Falten den Stoff verdichteten, Sterne sehen. Er atmete tief ein und packte fest die Seitenlehnen seines Stuhls, um das Zittern seiner Hände zu beschwichtigen. Er wollte seine Klarheit zurückgewinnen. «Es konnte geschehen», dachte er. Zugleich fiel ihm ein, daß das Gas in der Küche noch brannte. «Es konnte geschehen», wiederholte er. Auch klare Einsicht war lange geübte Geduld. Alles ließ sich gewinnen und erobern. Er schlug mit der Faust auf die Armlehne des Sessels. Man wird nicht stark, schwach oder eigenwillig geboren. Man wird stark, man erwirbt einen klaren Blick. Das Schicksal liegt nicht im Menschen, sondern es umgibt ihn. Er wurde gewahr, daß er weinte. Eine seltsame Schwäche, eine aus der Krankheit entstandene Art von Erschlaffung führte ihn in seine Kindheit und zu seinen Kindertränen zurück. Er fror an den Händen und verspürte im Herzen unendlichen Überdruß. Er dachte an seine Fingernägel und ließ unter seinem Schlüsselbein Nervenknoten rollen, die ihm enorm vergrößert erschienen. Und draußen war all diese Schönheit über die Welt gebreitet. Er wollte sich nicht von seiner Freude und seinem eifersüchtigen Festhalten am Leben trennen. Er dachte an die Abende oberhalb von Algier, an denen der Lärm der Menschen, die beim Ertönen der SiRenén aus den Fabriken strömen, zum grünen Himmel emporsteigt. Unter dem duftenden Wermut, den wilden Blumen zwischen den Ruinen und der Einsamkeit der kleinen zypressenumstandenen Häuser im Sahel zeichnete sich für ihn das Bild eines Lebens ab, wo Schönheit und Glück der Verzweiflung keinen Raum ließen und in dem Patrice etwas wie eine flüchtige Ewigkeit entdeckte. Das alles wollte er nicht verlassen noch zugeben, daß es auch ohne ihn weiterbestehen könnte. Von Auflehnung und Mitleid erfüllt, sah er jetzt das dem Fenster zugekehrte Gesicht von Zagreus vor sich. Er mußte lange husten. Das Atmen fiel ihm schwer. Er erstickte in seinem Schlafanzug. Er fror. Es war ihm zu heiß. In ihm brannte ein ungeheurer zielloser Zorn, und während er die Fäuste ballte, pochte sein Blut mit schweren Stößen unter seiner Schädeldecke; mit leerem Blick erwartete er den nächsten Schüttelfrost, der ihn in blindes Fieber zurückwerfen würde. Der Schüttelfrost kam, überlieferte ihn einer feuchten zugesperrten Welt, in der seine Augen sich schlossen und den Aufruhr des Tieres in ihm zum Schweigen brachten, das seinen Durst und Hunger haben wollte. Doch vor dem Einschlafen fand er Zeit, etwas von der verblassenden Nacht hinter den Vorhängen zu sehen und im Morgengrauen und beim Erwachen der Welt gleichsam einen allesumfassenden Appell der Liebe und Hoffnung zu vernehmen, der gewiß sein Grauen vor dem Tode auslöschte, ihm zugleich aber versicherte,

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