Der glückliche Tod
den ersten Skizzen war nicht ausschlaggebend. Nun mußten, um zwischen der gelockerten Zeitenfolge des ersten Teils und dem atemporalen Charakter des dritten zu vermitteln, im Verlauf der Erzählung die spröden beschreibenden Partien mit lyrischen Akzenten versehen werden.
Wir gelangen so zu der letzten Umformung des Romans, der Zusammenfassung zu zwei Teilen. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens Camus' Schwierigkeiten bei der Gestaltung erotischer oder gefühlsbetonter Szenen. Er mußte sich hier Beschränkungen auferlegen. In der obenerwähnten Skizze kündigte der zweite Teil nach dem Kapitel «Zeit gewinnen» die «Begegnung mit Lucienne» und dann die «Abreise Catherines» an. Er konnte oder wollte für diese Kapitel nicht genügend Material zusammenbringen. Schließlich hat dann die Zagreus-Episode genügend Gewicht erhalten, daß sie den Mittelpunkt eines ganzen Handlungssystems bilden konnte. Die Flucht nach Mitteleuropa, die anfangs mit dem Thema der sexuellen Eifersucht gekoppelt war, wurde nun mit der Zagreus-Episode verknüpft.
Doch noch immer hält Camus an der Einteilung in drei Teile fest. Hier der letzte Plan vor der endgültigen Zusammenfassung:
«I.Teil. 1.: das Armenviertel; 2.: Patrice Mersault; 3.: Patrice und Marthe; 4. [gestrichen, kaum lesbar] : P. und seine Freunde [?] ; 5.: Patrice und Zagreus.
II. Teil, l.: Ermordung Zagreus'; 2.: Flucht in Angst; 3.: Rück
kehr zum Glück.
III. Teil. 1.: die Frauen und die Sonne; 2.: das verborgene und leidenschaftliche Glück in Tipasa; 3.: der glückliche Tod.»
Der endgültige Titel ist gefunden, aber er bezieht sich hier auf das letzte Kapitel. Die Zagreus-Episode ist noch nicht gut placiert. Die Mordszene wird noch umgestellt, zunächst an das Ende, dann an den Anfang des ersten Teils. Damit ist der zweite, auf die Reise und die Rückkehr reduzierte Teil inhaltlich zu schmal. Er verschmilzt mit dem letzten, und ein gemeinsamer Titel, Der bewußte Tod, rechtfertigt die Zusammenfassung. Zugleich wird auf diese Weise ein entsprechender Titel für den ersten Teil erforderlich: Der natürliche Tod. Die einzelnen Kapitel dagegen verlieren ihre Titel: dasjenige, das zunächst «Das Haus vor der Welt», später «Die Frauen und die Sonne», danach «Die Frauen und die Welt» hieß, folgt nun unvermittelt, in der ungewöhnlichen Form des Präsens des Indikativs, auf die Erzählung von der Rückkehr aus Prag. So wurde «Der glückliche Tod» neu geschrieben — «Roman neu schreiben» nimmt sich Camus im Juni 1938 vor —, vollendet oder zumindest umgearbeitet.
Warum ist er nicht veröffentlicht worden? Wir wollen hier lediglich die rein literarischen Motive festhalten. Castex nimmt in seiner Studie über die Erzählung «Der Fremde» an, daß sie in der Vorstellung des Autors den vorliegenden Roman ersetzt habe; und er sieht im August 1937 die entscheidende Phase, in der sich die Thematik von «Der Fremde» unmerklich in den Vordergrund schiebt. Er zitiert den folgenden Text:
«Ein Mann, der das Leben dort gesucht hat, wo man es zu suchen pflegt (Ehe, Stellung usw.), und unvermittelt, beim Lesen eines Modejournals, entdeckt, wie sehr er dem Leben fremd war (dem Leben, wie es in den Modejournalen dargestellt wird)» 1 , der die erste Formulierung dieser Thematik bietet, obwohl er sich auf «Der glückliche Tod» bezieht.
Diese Hypothese hat etwas für sich. Sie wird gestützt, wenn man «Der glückliche Tod» unter dem Aspekt seiner Qualität als Roman betrachtet. Es scheint, daß Camus im Verlauf der Ausarbeitung den verborgenen Mangel seines ersten Romans erkannt und nach einer anderen Möglichkeit gesucht hat.
Ein Werk, «zugleich mangelhaft strukturiert und bemerkenswert gut geschrieben», urteilt Roger Quilliot. Man könnte es nicht besser ausdrücken. Die Qualitäten des Stilisten treten — anders als die des Romanciers — deutlich zutage. Camus versucht vergeblich, disparate Stoffelemente in eine Ordnung zu bringen und zu einem Ganzen zu vereinigen: welche Beziehung besteht zum Beispiel zwischen dem imaginären Mord an Zagreus und dem wirklichkeitsnahen Bericht von der Reise nach Prag? Oder zwischen der Schilderung des armen Teufels Cardona und der Beschwörung des «Hauses vor der Welt»? Die Diskrepanz der verschiedenen Stilebenen verstärkt die der einzelnen Episoden, wofür auch Camus' ausgeprägte Vorliebe für den Kontrast keine Erklärung bietet: pathetische, heitere, banale, trocken beschreibende,
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