Der glücklose Therapeut - Roman
Glastür auf. Die Wartehalle war in schales Neonlicht getaucht. Zu meiner Rechten hatten sich vor dem Fahrkartenschalter zwei Schlangen gebildet. Ein großer, kräftiger Mann mit Baseballkappe schrie, dass er es noch an diesem Tag nach Cleveland schaffen müsse. Unbedingt. Die Kassiererin hinter dem Tresen, eine füllige Schwarze mit bröselndem Make-up, erklärte, dass der Bus voll sei, der nächste später am Abend fahre und sein Geschrei ihm außerdem nicht im Geringsten weiterhelfen würde. Er erwiderte, dass Erklärungen ihr nicht weiterhelfen würden. Ich dachte, dass sie beide recht hatten. Ein paar übermüdete Rucksacktouristen schlurften um die Ecke, Kaffeebecher in den Händen. Hier und da sah ich dicht aneinandergedrängt Familien, deren Kinder in viel zu großen, fleckigen Mänteln steckten. Ich hielt nach Barry Ausschau und sah ihn schließlich in einer Ecke kauern; er zitterte wie ein verschrecktes Tier und wühlte nervös in seinen Manteltaschen, den Blick zu Boden gerichtet. Links von ihm drängten sich ein paar chassidische Juden mit wilden Bärten, schwarzen Mänteln und Hüten unter Gefuchtel und Palaver im Kreis und krakeelten in ihrer fremdartigen, gutturalen Sprache durcheinander. Ich bahnte mir durch das Durcheinander einen Weg zu ihm.
» Barry. «
Er hob kurz den Blick. Seine Augen waren nicht ausdruckslos wie bei einem Depressiven, sondern schimmerten in einem seltsamen Licht.
» Ich habe gehört, Sie hätten in der Praxis nach mir gefragt « , sagte ich.
Er senkte den Blick und zögerte, als müsste er einen Entschluss fassen – doch ich hatte das Gefühl, als sei er mit seinen Gedanken nicht ganz bei sich und ganz gewiss nicht bei mir. Den Kopf hatte er stirnrunzelnd ein wenig nach rechts gelegt, als überlegte er angestrengt. Ich dachte, dass er vielleicht der Unterhaltung der Chassidim neben ihm lauschte und versuchte, ihr geheimnisvolles Kauderwelsch zu verstehen, oder dass er ihre ruckenden Köpfe bei ihrem seltsamen Tanz beobachtete. Seine Finger zappelten unterdessen die ganze Zeit in seinen Taschen, und ich meinte zu sehen, wie seine Lippen sich unter Gemurmel bewegten.
» Wohin wollen Sie? « , erkundigte ich mich und beugte mich näher zu ihm. Die vertraute Nikotinaura umfing mich.
» Nach Texas « , hauchte er.
Texas. Ich erinnerte mich, dass seine Mutter noch immer in Houston lebte. Doch ich erinnerte mich auch an seine entsetzlichen Geschichten über sie – dass sie ihn als Kind misshandelt, in seinem Zimmer eingesperrt und ihm befohlen hatte, sich nicht mehr blicken zu lassen, manchmal tagelang, wie er sagte. Als er auf der Straße einmal ein Kätzchen aufgegabelt und es im Keller mit Milch gefüttert hatte, hatte seine Mutter in einem Wutanfall das Kätzchen gepackt und den Kopf des kreischenden Tiers vor den Augen ihres entsetzten Sohnes an die Wand geschmettert, weil er Milch an ein streunendes Tier verschwendet hatte. Einmal hatte sie aus der Waffensammlung in ihrem Schlafzimmerschrank ein Gewehr genommen, es ihm an den Kopf gehalten und unter lautem Gelächter abgedrückt. Das Kind Barry Long verstand nicht, was ihre Aktionen bedeuteten, doch ihr Gelächter, so hatte er mir leise gesagt, hatte ihn in Angst und Schrecken versetzt. Jahre später durchlebte er diese Angst und diesen Schrecken noch ein zweites Mal, als ihm als Erwachsener klar wurde, was sich als Kind seinem Verständnis noch entzogen hatte. So hatte er es mir erzählt, ohne zu wissen, dass er damit das allgemeingültige Gesetz einer Traumatisierung verkörperte: Ein traumatisches Erlebnis taucht in unserem Leben immer zweimal auf – einmal als äußeres Ereignis und dann noch einmal als inneres. Während ein äußeres Ereignis von der tatsächlichen Zeit seines Geschehens begrenzt ist, kennt ein inneres keine solchen Grenzen. Es geschieht immer und immer wieder, in einer Endlosschleife.
» Nach Texas? « , fragte ich.
» Dort finden sie mich nicht « , flüsterte er unvermittelt und sah wieder zu den Chassidim hinüber, die immer noch ihre geheimnisvollen biblischen Fürbitten leierten. » Hier sind sie hinter mir her. « Seine Stimme zitterte. » Sie sind hinter mir her. Meine Mom ist in Texas. Ich überlebe das Gefängnis nicht. Doktor, es ist gut, dass Sie gekommen sind. Sie werden zu Ihnen kommen und sich nach mir erkundigen. Erzählen Sie ihnen nichts von mir. Sagen Sie ihnen nicht, wohin ich gegangen bin. Ich bitte Sie. Die Dinge zwischen uns sind durch das Gesetz geschützt, nicht wahr? Im
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