Der goldene Greif
antwortete Phägor. Er zog mit dem Schnabel eine der Federn aus dem Ende seines Schweifs. Dann strich er mit ihr über die Wunde an Ahaths Schenkel. Sofort hörte das Blut auf zu fließen. Als er ein zweites Mal darüberstrich, schlossen sich die Wundränder, und beim dritten Mal war die Wunde ve r schwunden, als sei Ahath nie verletzt worden.
,Was für ein Wunder!’ staunte Raigo. ,Doch was ist mit deiner eigenen Wunde? Kannst du auch die heilen?’
,Nein, das kann ich leider nicht’, antwortete der Greif bedauernd. ,Diese Gabe kommt nur anderen zugute. Doch mach’ dir keine Sorgen um mich. Es ist nur ein Kratzer, der bald ve r heilt sein wird. Aber ich werde nach deinem Arm sehen. Du hast noch einen weiten Weg vor dir, da ist es besser, wenn du durch keine Verle t zung behindert wirst.’
Wieder zog Phägor eine der Federn aus seinem Schwanz, und auch Raigos Wunde ve r schwand unter seiner Behandlung.
,Trag’ die Toten zusammen’, sagte er dann. ,Wir wollen Steine über sie häufen, denn mit bloßen Händen könntest du sie wohl in diesem harten Boden nicht begr a ben.’
Nachdem Raigo die Toten zueinander gelegt hatte, begannen er und Phägor, die reichlich vorhandenen Steine über ihnen aufzuschichten. Nach etwa einer Stunde waren die Körper bedeckt. Raigo hatte ihnen alles gelassen, nur von Lardars Finger zog er den Diamanten. Nachdenklich betrachtete er ihn eine Weile.
,Was meinst du, Phägor, soll ich diesen Ring Lardars Mutter geben, wenn ich je nach Ruw a ria zurückkehre? Vielleicht hätte sie diesen Ring gern als Andenken an ihren Sohn?’
Doch Phägor schüttelte den Kopf. ,Sie ist eine stolze und hochmütige Frau’, sagte er. ,Sie würde es dir nicht danken, da du für sie der Mörder ihres Sohnes bist, auch wenn er dir nach dem Leben trachtete und du dich nur verteidigtest. Doch auch niemand anderem sollst du ihn geben, denn an ihm klebt Blut. Verkaufe ihn an e i nen Wucherer und gib das Geld zur einen Hälfte den Priestern des Mynthar, die a n dere schenke den Armen. So kann Lardar noch im Tod einen Teil seiner Schuld sühnen und vielleicht die Götter versöhnen. Und so wird auch der Ring von seiner Blutlast gereinigt und bringt nicht weiter Unheil über den nächsten Träger.’
,Ich will gern deinen Rat befolgen. Ich hoffe nur, daß mir das auch vergönnt sein wird’, mei n te Raigo zweifelnd.
,Nun, Raigo, die Gefahr ist für dich fürs Erste vorbei’, erwiderte Phägor, ,aber das bedeutet auch, daß wir uns nun wieder trennen müssen, so gern ich auch bei dir bliebe.’
Raigo war betrübt. ,Ich hatte gehofft, du würdest mich auf meinem Weg zum Orakel begle i ten’, sagte er niedergeschlagen. ,Hast du nicht selbst gesagt, daß auf meinem Weg noch viele Gefahren liegen? Wie leicht könnte ich wieder deine Hilfe benötigen, und du kannst mich nicht mehr rechtzeitig erreichen, weil du weit fort bist? Willst du deinen Freund im Stich lassen?’
Der Greif antwortete mit einem kleinen Lachen, das wie eine leise Melodie in Raigo au f klang. ,Du versuchst vergeblich, mich auf diese Weise zu halten’, meinte er dann. ,Nein, Raigo - selbst auf die Gefahr hin, daß du wieder in eine ausweglose Lage gerätst - ich kann nicht bei dir bleiben!’ Seine Stimme war jetzt wieder ernst. ,Außerdem weiß ich, daß die G e fahren, denen du jetzt entgegengehst, anderer N a tur sind als die soeben bestandene. Nur mit deinen Waffen und nur aus dir selbst heraus kannst du ihrer Herr werden. Und dabei kann ich dir nicht helfen. Bis du das Orakel befragt hast, bist du nun auf dich allein gestellt.’
,Kannst du mir nicht sagen, was das für Gefahren sind, die mich erwarten?’ fragte Raigo. Eine unbestimmte Angst war bei Phägors Worten zwischen seine Schulte r blätter gekrochen. Raigo hatte den Tod in der Schlacht nie gefürchtet, aber die Wo r te des Greifen hatten ihn seltsam berührt. Welche unbekannten Schrecken mochten auf ihn lauern?
Bedauernd schüttelte der Greif den Kopf. ,Leider kann ich dir nicht sagen, was dich erwartet, Raigo. Selbst wenn ich genau wüßte, was dir begegnen wird, könnte ich nicht erkennen, worin für dich die Gefahren liegen. Unbekannt sind mir viele Seiten der menschlichen Natur. Dinge, die dich schrecken, mögen mir harmlos ersche i nen, so daß ich in ihnen keine Gefahr für dich entdecken könnte. Doch liegt dein weiterer Weg auch für mich im Dunkeln. Vertraue nur auf dich selbst, und denke stets daran, was dein
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