Der goldene Greif
Ziel ist, so bin ich sicher, daß du das Orakel unbeschadet e r reichst. Zweifelst du jedoch an dir oder wirst deinem Wunsch untreu, .........’
Der Greif beendete den Satz nicht. Das kalte Gefühl in Raigos Rücken verstärkte sich. Mit einmal kam er sich klein und hilflos vor, und es war ihm, als habe sich plötzlich ein Schatten über die Sonne gelegt. Grau und düster sah der Tag aus, und Raigo fröstelte.
,Kann ich es schaffen, Phägor?’ fragte er leise. In diesem Augenblick wäre er am liebsten umgekehrt.
,Ja, Raigo, du kannst es schaffen, wenn du fest an dich und deine Zukunft glaubst’, antwo r tete der Greif. ,Doch noch eines muß ich dir sagen: Sobald du in den Ban n kreis des Throns der Götter kommst, können dich meine Gedanken nicht mehr e r reichen. Selbst wenn du mich rufen würdest - auch ich würde deinen Ruf nicht mehr vernehmen, denn die Aura des Gottes ist so mächtig, daß alles Schwächere verstummen muß.’
,So werde ich ganz verlassen sein?’ fragte Raigo bekümmert.
,Nur Mut, mein Freund!’ In Phägors Stimme schwang Zuversicht mit. ,Ich weiß, daß in dir die Kraft wohnt, die Aufgaben zu lösen - du mußt diese Kraft nur in dir fi n den! Und du wirst auch nicht allein sein. Zwei treue Gefährten werden dich stets begleiten, wohin du auch gehst: Argin und Ahath! Mögen sie dir Trost und Hof f nung geben, wenn du dessen bedarfst! Und nun - Viel Glück, Raigo! Ich kann nun nicht länger bleiben, aber ich weiß, daß wir uns wi e dersehen werden.’
Die gewaltigen Schwingen spreizten sich. Mit rauschenden Flügelschlägen erhob sich Phägor in die Lüfte und war bald Raigos Blicken entschwunden.
Raigo stand da und schaute in die Richtung, in die der Greif geflogen war, bis das weiche Maul Ahaths in sanft in den Rücken stieß. Geistesabwesend drehte Raigo sich um und lie b koste die weiche Nase des treuen Tieres. Erst als das Pferd ein ku r zes Wiehern ausstieß, schrak Raigo aus seinen Gedanken auf.
„Ja, du hast recht, Ahath!“ sagte er. „Wir müssen aufbrechen, obwohl ich jetzt noch weniger gern gehe als vorher. Aber mir bleibt keine Wahl. Ich werde wohl den einmal eingeschlag e nen Weg gehen müssen.“
Er stieg in den Sattel, und Argin kam von der Spitze des Steingrabs geflogen und setzte sich auf seinen Platz. In schlankem Galopp trug Ahath sie auf den Wald zu.
7. Die ersten Prüfungen
Am Mittag des nächsten Tages erreichte Raigo das Ende des Waldes und somit die Grenze von Imaran. Hier begann Niemandsland, denn die Grenzen des westlich gelegenen Sma r gund zogen sich bei der Stadt Sepinkora auf die Berge zu. Schon sein Ritt durch den Wald hatte Raigo stetig bergauf geführt, und auch jetzt stieg das Land beständig an. Einen Pfad oder gar eine Straße gab es schon lange nicht mehr. Steile Hänge versperrten oft den g e raden Weg und zwangen Raigo, aus seiner Ric h tung abzuweichen. Gelegentlich mußte er sogar absteigen und mit Ahath am Zügel über Halden aus losem Geröll klettern. Eisige Wi n de pfiffen an ungeschützten Ste l len über die Bergflanken, und die Nächte waren kalt, so daß Raigo immer eng an Ahath geschmiegt schlief.
Sechs Tage waren nun seit Phägors Abschied vergangen, und die von Tamantes mitg e nommenen Vorräte waren lange verbraucht. Aber Raigo litt keine Not, denn trotz der unwir t lichen Landschaft gab es viel Kleinwild, und sowohl er als auch Argin waren gute Jäger. Auch für Ahath fand sich genug zu fressen, denn an geschützten Stellen wuchsen dünnha l miges Berggras und Buschwerk. Kleine Quellen und Rinnsale lieferten genügend Trinkwa s ser, und einmal bereitete ein schäumender Bach Raigo ein besonderes Festmahl. Die F i sche, die Raigo aus dem eiskalten, glasklaren Wasser fing, schmeckten gebraten vorzüglich und ergaben auch noch einen recht haltbaren Proviant.
Am siebten Tage erreichte Raigo eine weite Hochebene, die sich viele hundert Ken nach Süden zu erstrecken schien. Weit in der Ferne erhoben sich die dunstverhül l ten Gipfel des Felsengebirges.
Tag um Tag ritt Raigo nun durch die unendlich erscheinende Trostlosigkeit dieser Hocheb e ne. Kein Baum, kein Strauch fing mit sanftem Grün den Blick, Steinbrocken, Geröll und tiefe Felsrisse machten das Vorwärtskommen unsicher. Nur hier und da standen ein paar gelbe, trockene Grasbüschel und bizarre Pflanzen mit harten Blä t tern wie aus grauem Leder, an denen Ahath mit sichtlichem Mißfallen rupfte. Obwohl Raigo am Tag
Weitere Kostenlose Bücher