Der goldene Greif
zurückkommen und dort weitermachen, wo du aufgehört hast. Gehst du jetzt, ist deine Chance, das Orakel zu befr a gen, vertan. Bestehst du aber auch die dritte Prüfung, die in zwei Tagen sein soll, kannst du am nächsten Tag das Orakel aufsuchen. Das Orakel kennt die Wahrheit und wird dir sagen, was wirklich inzwischen geschehen ist. So weißt du schon in drei Tagen, was dich so dri n gend zu erfahren verlangt - nicht erst in zwei oder drei Wochen! Dann kannst du immer noch eilen, wenn du meinst es sei erforderlich. Handle jetzt, wo du so kurz vor deinem Ziel stehst, nicht unüberlegt!“
Raigo hatte Huvran zwischendurch unterbrechen wollen, aber der Greis hatte ihn mit einer gebieterischen Handbewegung zum Schweigen gebracht.
„Und wenn alles stimmt, was sie sagten, Huvran?“ fragte er nun bang. „Wenn es stimmt, daß Imaran und Ruwarad Krieg miteinander führen? Daß Coriane im Sterben liegt und nur durch größte Eile von mir gerettet werden kann? Daß die wilden Barbaren Ruwarads Gre n zen bedrohen und - daß Phägor mich betrügt und mich nur für seine Zwecke benutzen will?“
Der Greis richtete sich bei Raigos letzten Worten empört hoch auf, und seine klaren Augen blitzten den Jüngeren zornig an.
„So vertraust du einem Freund?“ fuhr er Raigo an. „Hat er dir nicht mehr als einmal bewi e sen, daß er das ist? Eine verleumderische Stimme - und schon zweifelst du? Frage dich, ob du seiner Freundschaft wert bist!“
Raigo senkte beschämt den Kopf. „Du hast recht, Huvran!“ sagte er zerknirscht. „Wie konnte ich nur an Phägor zweifeln! Ich habe doch stets in mir gefühlt, wie au f richtig und treu er ist. Doch was die Stimmen sagten, klang so erschreckend l o gisch.“
„So siehst du also, wie sie lügen!“ sagte Huvran mit einem kleinen Triumph in der Stimme, denn er fühlte, daß Raigos Entschluß abzureisen wankend wurde.
„Aber Coriane! Was ist, wenn sie wirklich stirbt?“ fragte Raigo voll Angst.
„Was genau haben die Stimmen über Coriane gesagt?“ forschte Huvran.
„Sie sagte, Coriane würde sterben, weil ihr Herz brach, als ich sie ohne Hoffnung auf Wi e derkehr verließ“, antwortete Raigo.
„Hattest du denn den Eindruck, daß Coriane nicht an deine Rückkehr glaubte?“ fragte Huvran weiter.
„Nein, eigentlich nicht“, meinte Raigo unsicher. „Sie bat die Götter, mich zu schü t zen und ihr mein Leben zu erhalten, und sie sagte, daß sie auf mich warten würde.“ Die Erinnerung an seinen Abschied von Coriane ließ ihn wehmütig lächeln. „Und sie gab mir das hier, damit es mich beschützt und mich an sie erinnert.“ Damit zog er das Medaillon an seiner Kette aus dem Ausschnitt.
Huvran betrachtete es, und ein verschmitztes Lächeln trat in seine gütigen Augen.
„Ein Amulett, das Zauber abwehrt“, sagte er, „ und darunter besonders - einen Liebesza u ber! Wer es trägt, in dessen Herzen wohnt nur der Geber des Anhängers, und kein Liebe s zauber hat Macht über den Träger. Raigo, Raigo! Du bist noch sehr jung und mußt noch viel lernen! Eine Frau, die solch ein Amulett verschenkt, stirbt nicht an gebrochenem Herzen, weil sie glaubt, den Geliebten verloren zu haben. Hoffte sie nicht, ihn wiederzusehen, brauchte sie sein Herz nicht vor Rivalinnen zu schützen.“
„Vielleicht wußte sie nicht, was das Medaillon bedeutet“, sagte Raigo erstaunt. „Sie sagte nur, es schütze vor Zauber und warne mich davor.“
„Natürlich hat sie dir von der anderen Wirkung nichts erzählt!“ lächelte Huvran. „Sie vermut e te wohl zu Recht, daß du gekränkt gewesen wärst, daß sie es für möglich hielt, du könntest eine andere Frau ansehen. - Nein, nein, Raigo! Ich bin sicher, daß auch die Sache mit Cor i ane nicht stimmt.“
Raigo war sichtlich erleichtert, dann aber verdüsterte sich seine Miene erneut. „Aber der Krieg!“ fragte er. „Was ist, wenn es wirklich zwischen Ruwarad und Imaran zum Kampf g e kommen ist?“
„Dann kannst du es auch nicht mehr verhindern, selbst wenn du jetzt dorthin r e itest “, meinte Huvran ernst. „Aber ich bin nicht das Orakel. Was ich dir sagte, sind nur die Folgerungen, die ich aus den Tatsachen zog. Die Wahrheit kann dir nur das Orakel sagen. Willst du nun noch immer fortreiten? Sieh, dort steht Ahath, und A r gin fliegt frei. Seit er gespürt hat, daß man dir nichts Böses will, konnten wir seine Fesseln lösen. Bald wird er dich entdecken und
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