Der goldene Greif
schrak Raigo plötzlich aus seinem tiefen, traumlosen Schlaf hoch, den der Trank Huvrans ihm g e schenkt hatte.
Wie ein Keulenschlag traf Raigo im selben Augenblick die Erinnerung an die schrecklichen Stimmen und das, was sie ihm kundgetan hatten. Mit einem Satz war Raigo aus dem Bett und warf seine Kleider über. Warum hatte man ihn nur schlafen lassen? Wo war Huvran? Das winzige Talglicht, das den fensterlosen Raum nur schwach erleuchtete, vermittelte Ra i go kein Gefühl, welche Tageszeit es war.
Raigo lief aus dem Raum. Auf dem Gang, der in Abständen mit Fackeln erleuchtet wurde, war kein Mensch zu sehen. Er erinnerte sich, daß sie auf ihrem Weg zur we i ten Prüfung links heruntergegangen und dann auf die große Halle gestoßen w a ren. Dort würde er wohl jemanden finden.
Raigo wollte sofort aufbrechen. Nur so konnte es ihm gelingen, das Schlimmste zu verhüten. Er mußte Coriane retten! Vielleicht gelang es ihm sogar, den Krieg zu b e enden, wenn er öffentlich seinem Anspruch auf die Krone Ruwarads entsagte und das Reich an Konias a b trat. Warum hatte er das nicht gleich getan? Vielleicht hätte ihm Konias dann sogar gesta t tet, in Ruwaria zu leben. All das Unheil, das er verschuldet hatte, wäre dann nicht gesch e hen.
Raigo war wie von Sinnen. Wie ein gehetztes Tier rannte er den Gang hinunter. Als er zu der großen Halle gelangte, kam ihm einer der Wyranen entgegen. Raigo e r griff den Mann bei den Schultern und schüttelte ihn.
„Wo ist Huvran?“ schrie er ihn an. „Ich brauche sofort mein Pferd! Wo ist es? Schnell, rede, die Zeit läuft mir davon!“
Der Mann, der von Raigos Redeschwall nur das Wort Huvran verstanden hatte, wies auf einen schmalen Gang, der linker Hand von der Halle abging. Da er wußte, daß Raigo auch seine Worte nicht verstehen wurde, bedeutete er ihm mit Handzeichen, daß sich Huvran im dritten Raum befand, der an diesem Gang lag. Kaum hatte Ra i go verstanden, als er auch schon davonstürzte. Er riß den Vorhang zu dem angeg e benen Raum beiseite und stutzte.
Das Zimmer lag in hellem Sonnenschein, der durch eine breite Öffnung in der Fel s wand fiel. Durch diese Tür blickte Raigo in einen weiten Talkessel. Das Zimmer war leer, und so ging Raigo durch die Tür ins Freie.
Was er sah, setzte ihn so in Erstaunen, daß er sogar für einen Augenblick seine Eile vergaß und verblüfft stehenblieb. Vor ihm lag eine sanft geschwungene Talmulde, deren Ränder mit Büschen und niedrigen Bäumen bestanden war. Die Senke selbst war mit üppigem Gras bewachsen, und Raigo erblickte zu seiner Rechten wohlg e pflegte Gemüsepflanzungen. Ein breiter Bach schlängelte sich plätschernd von der gegenüberliegenden Seite des Tals heran und ergoß sich in einen kleinen See, der fast kreisrund die Mitte der Mulde ausfüllte. Und dann sah Raigo Ahath, der in der Nähe des Ufers graste. Ehe er ihn jedoch rufen konnte, sagte eine Stimme hinter ihm:
„Nun, wie gefällt dir unser kleines Paradies? Das hättest du wohl hinter den dunklen Höhlen nicht vermutet, nicht wahr?“
Raigo wandte sich um und sah Huvran, der mit einer Blume in der Hand aus einem sei t wärts gelegenen Gärtchen kam.
„Ich freue mich zu sehen, daß du wohlbehalten aus der Grotte der Stimmen zurüc k gekehrt bist“, fuhr der Alte fort. „Ich hatte große Sorge um dich, denn zuerst sah es so aus, als sei dein Geist verwirrt.“
„Oh nein!“ antwortete Raigo. „Nie war mein Geist klarer als jetzt! Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe, und darum bitte ich dich, mich sofort gehen zu lassen. Vielleicht kann ich das Schlimmste verhindern, wenn Ahath mich auf den Flügeln des Windes nach Imaran zurüc k trägt.“
„Höre, Raigo!“ Der Greis legte beschwörend die Hand auf Raigos Arm. „Habe ich dir nicht gesagt, daß nicht alles Wahrheit ist, was die Stimmen dir sagen werden? W o her willst du wissen, daß nicht sogar alles Lüge ist, was sie dir einflüsterten? Denn auch das kann sein. Wenn du jetzt fortreitest, war alles umsonst, was du bis heute ertragen hast, und du wirst dein Ziel nie erreichen. Was ich dir jetzt sage, ist mir eigentlich verboten: Aber schau, wie lange würdest du nach Imaran unterwegs sein? Siebzehn, achtzehn Tage mindestens, denn auch Ahath kann nicht Tag und Nacht laufen, und auch du mußt zwischendurch schlafen und essen. Und dann? Dann kommst du nach Imaran und findest nichts so vor, wie die Stimmen dir sagten. Und was dann? Du kannst nicht mehr einfach
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