Der goldene Greif
Tagereisen von hier entfernt. Frisches Gemüse würde sich wohl kaum so lange halten. Somit könnten wir auch nicht behaupten, wir hätten es von dort geholt. Daher geben wir Fremden auch nur die Na h rung, welche die kargen Berge hervorbringen kann. Das Fladenbrot machen unsere Frauen aus den Wurzeln einer Pflanze, die an geschützten Stellen überall im Gebirge wächst. Das Fleisch stammt von den wilden Ziegen und Bergschafen, die unsere Jäger erlegen. Auch Bären und Kleinwild jagen wir. Doch da wir nur töten, was wir unbedingt brauchen, ist das Wild zahlreich, und wir leiden keine Not.“
Während des Essens erzählte Bearnir Raigo vieles von den Gebräuchen der Wyranen, und Raigo wunderte sich, warum man sie ein wildes Bergvolk nannte. Ihre Handwerkskunst konnte sich wohl mit dem Stand derer der nördlichen Länder messen, ja war ihr zum Teil sogar überlegen.
Doch da die Wyranen ein kleines Volk waren, das kaum Handel trieb, war diese Kunstferti g keit nur wenigen bekannt. Ihre Gewohnheiten und Sitten waren dem rauhen Leben in ihrem Gebiet angepaßt, aber sie verehrten dieselben Götter. Auch seien sie sehr musikalisch, sa g te Bearnir.
„Du wirst es hören“, versprach er, „wenn du vom Orakel zurückkommst. Denn wenn es dir günstig war, werden wir dem Gott und dir zu Ehren ein Fest feiern, bei dem mein Volk seine alten und neuen Lieder singt. Ich kann nicht vergleichen, aber mein Vater sagt, die Wyranen hätten von allen Völkern die schönsten Stimmen. Darum bin ich begierig, dein Urteil zu h ö ren.“
Nachdem die Reste des Mahls abgeräumt waren, saßen Raigo und Bearnir noch lange z u sammen, und nun erzählte Raigo dem Wyranen von Ruwarad und Imaran, von Vangors Reich und den Moradin. Sehnsucht erfüllte sein Herz, als seine Worte die Vergangenheit in ihm beschworen. Immer wieder blickte er über das Tal, das ihn so sehr an die Heimat eri n nerte.
Die Sonne begann schon ihren Abstieg zum westlichen Rand des Bergkranzes, der das Tal umgab, als Bearnir sich verabschiedete. Er versprach, am Abend wiederz u kommen. Er wies Raigo den Raum an, vor dessen Ausgang sie saßen, doch Raigo wollte nicht hineingehen. Stattdessen schlenderte er zu Ahath hinunter, der fre u dig auf ihn zugelaufen kam.
Raigo legte sich in das duftende Gras, und Ahath zog sich in den Schatten einer kleinen Baumgruppe zurück, die in der Nähe wuchs.
Träumend lag Raigo inmitten der blühenden Blumen. Kein Luftzug regte sich mehr, und über dem Tal lag die Hitze des Spätsommertages wie eine unsichtbare Glocke. Das morgendliche Vogelgezwitscher war verstummt, und nur das Summen der Bi e nen unterbrach die Stille, die sich träge über dem Tal ausbreitete. Kein Hauch krä u selte das Silberblau des Sees, und die Schilfhalme, die an einigen Stellen das Ufer säumten, standen kerzengerade. Über ihnen flimmerte die Luft in der Sonne.
Der Frieden und die Ruhe, die das ganze Tal auszuatmen schien, verdrängten die Sorge aus Raigos Gedanken. Er war einfach nicht fähig, weiterhin an die auf ihm lastenden, schlechten Nachrichten zu denken, welche die Stimmen ihm gebracht hatten. Sein Gehirn war von einer angenehmen Leere, die es ihm auch nicht gesta t tete, an die bevorstehende Prüfung zu denken. Ohne daß es ihm zu Bewußtsein kam, wurden seine Lider schwer, und bald war er eingeschlafen.
Er erwachte erst, als nur noch ein kleiner Rest der untergehenden Sonne das Tal mit rotem Schein überzog. Die Westseite war bereits in die samtig-violetten Schatten der Berge g e hüllt. Orange-goldene Streifen färbten das Wasser des Sees, dessen Silberblau sich lan g sam schwärzlich verdunkelte.
Ahath hatte seinen Herrn mit der Nase angestoßen, weil er zu meinen schien, daß es an der Zeit sei aufzuwachen. Auch Argin hockte in der Nähe auf einem Baum. Als Raigo sich nun erhob, kam er herbeigeflogen und ließ sich auf seinem Arm nieder. Ahath ging mit Raigo bis zu seiner Behausung, dann drehte er sich herum und trabte zurück zum Ufer des Sees. A r gin folgte ihm dorthin.
Raigo betrat die ihm angewiesene Felskammer. Nun erst schenkte er dem Raum seine Aufmerksamkeit, nachdem er ihn am Morgen auf seiner Suche nach Huvran kaum wahrg e nommen hatte. Das Zimmer war wesentlich größer als das, was er bi s her bewohnt hatte. Die Wände waren nicht roh behauen, sondern sorgfältig geglä t tet, und eine von ihnen war mit prächtigen Jagdszenen bemalt. Hier fand Raigo jedes Tier wieder, das die Wyranen als Jagdbeute heimbrachten,
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