Der goldene Greif
wovon der große, graue Bär der Felsenberge das Beeindr u ckendste war. Die Wyranen mußten tapfere Männer sein, denn die Zeichnungen zeigten, daß das Tier aufgerichtet die Männer weit überragte. Es mußte schon Mut dazugehören, einem solch gewaltigen Gegner mit dem Spieß entgegenzutreten.
Raigo ließ sich auf einem der fellbezogenen Kissen vor dem aus großen Steinen e r richteten Kamin nieder, in dem jedoch kein Feuer brannte, da die milde Luft des Tages den Raum angenehm erwärmt hatte. Statt des Fellagers in Raigos früherer Behausung gab es hier eine hölzerne Bettstatt, die mit Lederriemen bespannt und mit Decken aus der Wolle der wilden Schafe belegt war. In einer der Wände waren Nischen gehauen, die dem Bewohner als A b lageplatz für Gebrauchsgegenstände dienen konnten. Ein niedriger Tisch von der Art, an dem Raigo bereits zu Mittag gegessen hatte, und zwei weitere Sitzkissen vervollständigten die behagliche Ei n richtung des Raums. Von der Decke herab hing an einer eisernen Kette eine Lampe, in der mehrere, fein gezogene Bienenwachskerzen steckten.
Da die Dämmerung nun rasch hereinbrach, entzündete Raigo die Kerzen an der Flamme der im Gang brennenden Fackel. Das warme Licht der Kerzen huschte flackernd über die Wä n de und gab den Jagdszenen ein so lebendiges Aussehen, daß Raigo vermeinte, den Klang der Jagdhörner zu hören.
Doch seine lebhafte Phantasie war durch den wirklichen Klang eines Horns ang e sprochen worden, und gleich darauf trat Bearnir durch den Vorhang.
„Die Hörner rufen zur Abendmahlzeit“, sagte er zu Raigo. „Wir pflegen den Tag mit einem gemeinsamen Mahl zu beschließen, das in der großen Halle gereicht wird. Möchtest du dich uns anschließen, oder ziehst du es vor, hier zu essen?“
„Wenn es mir erlaubt ist, so würde ich gern mit euch zusammen mein Abendbrot einne h men“, antwortete Raigo, erfreut über dieses Angebot. „Ich war so daran g e wöhnt, im Kreise von Freunden zu tafeln, daß ich in der letzten Zeit die Gesellschaft beim Essen schmerzlich vermißt habe. Darum machst du mir mit deiner Einladung eine große Freude.“
„Gut, so wollen wir gehen“, lachte Bearnir. „An fröhlicher Gesellschaft soll es dir nicht ma n geln. Es könnte dir höchstens zu viel werden, denn wir Wyranen sind nicht gerade schwei g same Leute.“
„Werden wir deinen Vater sehen?“ fragte Raigo, denn auch er hatte Huvran ins Herz g e schlossen.
„Hat dir der Vater nicht gesagt, daß du ihn erst wiedersehen wirst, wenn er dich zu deiner dritten Prüfung holen kommt?“ fragte Bearnir zurück. „Der Vater ist sehr b e schäftigt, denn er mußt das Opfer vorbereiten, das der Gott zu deiner letzten Pr ü fung verlangt. Bis dahin mußt du mit meiner Begleitung vorlieb nehmen.“
Während sie zur Halle gingen, fragte Raigo: „Was ist das für ein Opfer, das ihr Mynthar da r bringt?“
„Ein Menschenopfer!“ sagte Bearnir mit einem verschmitzten Seitenblick auf Raigo.
Sofort kam die empörte Reaktion, die er erwartet hatte.
„Ein Menschenopfer?“ Raigo blieb fassungslos stehen. „Das kann nicht dein Ernst sein, B e arnir! Du willst mir doch nicht erzählen, daß ihr einen Menschen tötet als Opfer für Mynthar. Wer hätte je davon gehört, daß der Gott ein solches Opfer ve r langt?“
„Nein, natürlich töten wir keinen Menschen!“ erwiderte Bearnir ernst. „Aber dennoch opfern wir ihm einen der Unseren. Immer wenn jemand das Orakel befragen will und er die Prüfu n gen bestanden hat, begleitet ein Jüngling aus unserer Mitte ihn zum Thron der Götter. Er bleibt dort oben, bis wieder jemand das Orakel aufsucht, als Diener des Gottes und als Wächter des Heiligtums. Der bisherige Priester aber kehrt mit dem Mann zurück, der das Orakel befragte. Besteht lange Zeit niemand die Prüfungen, kann es sein, daß der ause r wählte Jüngling viele Jahre seines Lebens dort oben verbringen muß, bis er abgelöst wird. Er lebt dort oben in Einsamkeit, denn niemand außer ihm darf das Heiligtum betreten. Jede Woche bringen zwei unserer Männer ihm alles, was er benötigt, zur Pforte des Heiligtums. Das ist die einzige Gelegenheit für ihn, mit anderen zu sprechen. Doch die Männer können nicht lange verweilen, da sie den heiligen Berg bis zur Dämmerung verlassen haben mü s sen. Der jetzige Hüter des Heiligtums lebt schon zwölf Jahre dort oben. Glaubst du nicht, daß das ein Opfer ist? So angenehm und so ehrenvoll der
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