Der Goldene Kompass
kleiner Junge.
»Die bringt uns doch nur von der Station weg, um uns zu töten«, sagte ein Mädchen.
»Ich bin trotzdem lieber hier draußen als dort«, sagte jemand.
»Ich nicht! In der Station ist es warm, und es gibt zu essen und heiße Getränke und überhaupt alles.«
»Aber die brennt doch lichterloh!«
»Und was sollen wir hier draußen? Hier verhungern wir doch…«
Viele Fragen schössen Lyra durch den Kopf, dunkel und unfaßbar wie Hexen, aber rief im Innersten, an einer Stelle, an die sie mit ihren Gedanken nicht kam, empfand sie einen Stolz und eine Begeisterung, die sie sich nicht erklären konnte.
Aber dieses Gefühl beflügelte ihre Kräfte, und sie zog ein Mädchen aus einer Schneewehe und schubste einen trödelnden Jungen vorwärts. »Geht weiter!« rief sie den Kindern zu. »Folgt den Spuren des Bären! Er ist zusammen mit den Gyptern gekommen, also führen seine Spuren uns direkt zu ihnen! Geht ihnen einfach nach!«
Es begann in dicken Flocken zu schneien, und bald würde der Schnee Iorek Byrnisons Spuren zudecken. Die Lichter von Bolvangar waren verschwunden und das Flammenmeer nur noch ein schwaches Glühen in der Ferne. Das einzig Helle war der matt schimmernde Schnee auf dem Boden. Dicke Wolken bedeckten den Himmel, so daß weder Mond noch Nordlicht leuchteten, aber wenn die Kinder sich anstrengten, konnten sie noch die tiefe Spur erkennen, wo Iorek Byrnison den Schnee durchpflügt hatte. Und wo immer es nötig war, war Lyra zur Stelle, ermutigte, kommandierte und beschwor die Kinder, stieß und schob oder zog sie vorwärts, stützte sie und half ihnen vorsichtig wieder auf die Beine, wenn sie hingefallen waren. Pantalaimon, der wußte, wie den Dæmonen zumute war, sagte Lyra, was jeweils zu tun war.
Ich bringe sie zu den Gyptern, redete sie sich immer wieder ein. Ich bin gekommen, um sie zu holen, und ich hole sie, verflucht noch mal!
Roger folgte ihrem Beispiel, während Billy, der schärfere Augen als die meisten hatte, ihnen den Weg wies. Bald fiel der Schnee so dicht, daß sie sich aneinander festhalten mußten, damit niemand verlorenging. Vielleicht wenn alle sich dicht nebeneinander legten und sich gegenseitig wärmten, dachte Lyra… und Löcher in den Schnee gruben…
Sie glaubte verschiedene Geräusche zu hören. Irgendwo brummte ein Motor, aber es klang nicht wie das tiefe Dröhnen des Zeppelins, sondern höher, eher wie das Summen einer Hornisse. Im einen Augenblick war das Geräusch da, dann war es wieder weg.
Und Geheul… Hunde? Schlittenhunde? Aber auch dieses Geräusch, gedämpft durch Millionen von Schneeflocken und von Windböen hin und her geweht, war zu weit entfernt, um es eindeutig zu bestimmen. Vielleicht waren es tatsächlich die Schlittenhunde der Gypter, aber es konnten auch die wilden Geister der Tundra sein oder die befreiten Dæmonen, die um die verlorenen Kinder weinten.
Auch glaubte sie, Lichter zu sehen… Leuchtete da nicht etwas im Schnee? Auch das mußten Geister sein… wenn sie nicht sowieso im Kreis gelaufen und nach Bolvangar zurückgekehrt waren.
Aber das war schwaches gelbes Licht von Laternen, nicht das grelle Weiß anbarischer Lampen. Außerdem bewegten die Lichter sich, und das Heulen kam näher, und ehe Lyra noch mit Sicherheit wußte, ob sie nicht eingeschlafen war, war sie bereits von vertrauten Gestalten umgeben und wurde von in Pelze vermummten Männern umarmt. John Faa hob sie mit seinen starken Armen hoch in die Luft, und Farder Coram lachte vor Freude; und soweit Lyra durch den Schneesturm sehen konnte, hoben überall Gypter Kinder in die Schlitten, deckten sie mit Fellen zu und gaben ihnen Seehundfleisch zum Kauen. Und da war ja auch Tony Costa. Er umarmte Billy und versetzte ihm einen sanften Rippenstoß, nur um ihn gleich wieder in die Arme zu nehmen und vor lauter Freude zu schütteln. Und Roger…
»Roger kommt mit uns«, sagte Lyra zu Farder Coram. »Schließlich bin ich vor allem seinetwegen gekommen. Wenn alles vorbei ist, gehen wir wieder nach Jordan zurück. Was ist das für ein Lärm…«
Wieder ertönte das seltsame Motorgebrumm, ähnlich dem manischen Summen des fliegenden Spions, nur tausendmal lauter.
Jemand versetzte ihr einen Schlag, der sie der Länge nach umwarf. Pantalaimon konnte sie nicht verteidigen, denn der goldene Affe…
Mrs. Coulter…
Erbittert rangen die beiden Dæmonen miteinander. Der goldene Affe biß und kratzte Pantalaimon, und Lyras Dæmon, der kaum zu sehen war, so schnell wechselte er
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