Der Goldene Kompass
schwarze Schatten auf, bizarre, stromlinienförmige Gestalten — die Hexen auf ihren Wolkenkiefernzweigen. Rasch und mühelos flogen sie zum Ballon empor; ihre Zweige steuerten sie, indem sie sich mal nach dieser, mal nach jener Seite lehnten. Eine von ihnen, die Schützin, die Lyra vor Mrs. Coulter gerettet hatte, kam direkt neben den Ballon, und nun konnte Lyra sie zum erstenmal deutlich sehen.
Sie war noch jung — jünger als Mrs. Coulter — und sehr schön, und sie hatte leuchtend grüne Augen. Wie die anderen Hexen war auch sie mit schwarzen Seidentüchern bekleidet und trug weder Pelze noch Kapuze oder Handschuhe. Doch sie schien überhaupt nicht zu frieren. Um ihre Stirn wand sich eine einfache Kette aus kleinen roten Blumen. Sie ritt ihren Wolkenkiefernzweig, als wäre er ein feuriges Pferd, das sie knapp einen Meter vor Lyras staunenden Augen zugehe.
»Lyra?«
»Ja! Bist du Serafina Pekkala?«
»Die bin ich.«
Lyra begriff, warum Farder Coram diese Hexe liebte und warum diese Liebe ihm das Herz gebrochen hatte, obwohl sie von diesen Dingen eigentlich noch gar nichts wußte. Farder Coram war alt geworden, ein alter gebrochener Mann, und die Hexe würde noch viele Menschenalter jung bleiben.
»Hast du den Symboldeuter?« fragte die Hexe. Ihre Stimme klang wie der hohe, wilde Gesang der Aurora, so melodisch, daß Lyra den Sinn der Frage fast überhört hätte.
»Ja, in meiner Tasche. Dort ist er sicher.«
Sie hörte das Sausen mächtiger Schwingen, und schon glitt der graue Gänsedæmon neben sie. Er sprach kurz mit der Hexe, drehte dann wieder ab und kreiste in großem Abstand um den noch immer aufsteigenden Ballon.
»Die Gypter haben Bolvangar verwüstet«, sagte Serafina Pekkala. »Sie haben zweiundzwanzig Wächter und neun Angestellte getötet und alles angezündet, was von den Gebäuden noch stand. Sie wollen die Anlage vollständig zerstören.«
»Was ist mit Mrs. Coulter passiert?«
»Sie ist spurlos verschwunden.«
Die Hexe stieß einen wilden Schrei aus, und einige andere Hexen kamen angeflogen und umkreisten den Ballon.
»Mr. Scoresby«, sagte sie, »das Seil, wenn ich bitten darf.«
»Meine Dame, ich bin Ihnen sehr dankbar. Noch steigen wir, und ich schätze, das werden wir auch noch eine Weile tun. Wie viele von Ihnen sind denn nötig, um uns nach Norden zu ziehen?«
»Wir sind stark«, sagte Serafina Pekkala nur.
Lee Scoresby befestigte eine Rolle mit einem dicken Seil an dem lederüberzogenen Eisenring, in dem die den Ballon umspannenden Seile zusammenliefen und an dem der Korb aufgehängt war. Dann warf er das lose Ende des Seiles über Bord, und sofort schössen sechs Hexen darauf zu, packten es, trieben ihre Wolkenkiefernzweige an und zogen den Ballon in Richtung Polarstern.
Als sie den Ballon auf Kurs gebracht hatten, hockte sich Pantalaimon in Gestalt einer Seeschwalbe auf den Korbrand. Auch Rogers Dæmon warf einen kurzen Blick hinaus, kroch aber bald wieder zurück, denn Roger schlief genau wie Iorek Byrnison rief und fest. Nur Lee Scoresby war wach, kaute gelassen auf einem Zigarillo und wachte über die Instrumente.
»Lyra«, sagte Serafina Pekkala, »warum willst du eigentlich zu Lord Asriel?«
Lyra war überrascht. »Ich will ihm natürlich das Alethiometer bringen.«
Sie hatte nie über diese Frage nachgedacht, so klar war die Antwort. Dann fiel ihr auf einmal ihr ursprüngliches Anliegen ein. Fast hätte sie es vergessen, so viel Zeit war inzwischen vergangen.
»Oder eigentlich… wollten wir ihm bei der Flucht helfen. Ja, genau, wir wollen ihm helfen zu fliehen.«
Aber als sie das sagte, merkte sie, wie absurd es klang. Aus Svalbard fliehen? Unmöglich!
»Oder es jedenfalls versuchen«, setzte sie trotzig hinzu. »Warum?«
»Ich glaube, ich muß dir vorher noch ein paar Dinge sagen«, sagte Serafina Pekkala.
»Über Staub?«
»Ja, unter anderem. Aber du bist jetzt müde, und es wird ein langer Flug. Wir unterhalten uns, wenn du geschlafen hast.« Lyra gähnte. Es war ein tiefes, herzhaftes Gähnen, das ihre Kiefern knacken ließ und gar nicht mehr aufhören wollte, und sosehr Lyra auch gegen ihre Müdigkeit kämpfte, sie konnte ihr zuletzt nicht widerstehen. Serafina Pekkala streckte eine Hand über den Korbrand und strich ihr über die Augen. Als Lyra auf den Boden sank, flatterte auch Pantalaimon hinunter, verwandelte sich in ein Hermelin und kroch zu seinem Schlafplatz an ihrem Hals.
Die Hexe richtete sich wieder auf und flog dann ruhig auf ihrem
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