Der Goldene Kompass
Zweig neben dem Korb her in Richtung Norden — nach Svalbard.
DRITTER TEIL
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Svalbard
Nebel und Eis
Lee Scoresby deckte Lyra mit einigen Fellen zu. Das Mädchen kuschelte sich an Roger, und so schliefen sie Seite an Seite, während der Ballon weiter in Richtung Pol flog. Der Aeronaut überprüfte von Zeit zu Zeit seine Instrumente, kaute auf der Zigarre, die er angesichts des feuergefährlichen Wasserstoffes nicht angezündet hatte, und zog seine eigenen Felle noch fester um sich.
»Das kleine Mädel ist ziemlich wichtig, wie?« fragte er nach einer Weile.
»Wichtiger, als sie weiß«, erwiderte Serafina Pekkala.
»Heißt das, wir müssen uns auf einen Waffengang gefaßt machen? Verstehen Sie mich richtig, ich spreche als praktisch denkender Mensch, der sein Brot verdienen muß. Ich kann mir nicht leisten, mir die Knochen brechen oder mich in Stücke schießen zu lassen, ohne daß vorher irgendeine Kompensation vereinbart wurde. Ich will nicht kleinlich erscheinen, wirklich nicht, aber das Honorar, das John Faa und die Gypter mir zahlen, deckt nur Zeitaufwand, Leistung und die normale Abnutzung des Ballons, nicht mehr. Es schließt keine Versicherung gegen kriegerische Handlungen ein. Und ich sage Ihnen eins, Madame: Wenn wir mit Iorek Byrnison auf Svalbard landen, dann ist das eine kriegerische Handlung.«
Er spuckte geschickt einige Krümel Tabak über Bord.
»Und deshalb wüßte ich gern, was wir in puncto Krawall und Schlägerei zu erwarten haben«, schloß er.
»Es kann zu Kämpfen kommen«, sagte Serafina Pekkala. »Aber Sie haben doch auch in der Vergangenheit gekämpft.«
»Sicher, wenn ich bezahlt wurde. Tatsache ist, daß ich in diesem Fall von einer einfachen Personenbeförderung ausging und eine entsprechende Rechnung stellte. Und nach dem kleinen Zusammenstoß da unten, ja, da frage ich mich, wozu ich verpflichtet bin. Ob man zum Beispiel von mir erwarten kann, daß ich in einem Krieg der Bären Leben und Ausrüstung riskiere. Oder ob das Kind auf Svalbard ähnlich heißblütige Feinde hat wie in Bolvangar. Ich erwähne das lediglich, weil wir gerade darüber sprechen.«
»Ich wünschte, ich könnte Ihre Frage beantworten, Mr. Scoresby«, sagte die Hexe. »Ich kann nur sagen, daß wir alle, Menschen, Hexen und Bären, uns bereits mitten in einem Krieg befinden, auch wenn das nicht alle wissen. Ob Sie nun auf Svalbard am Krieg teilnehmen oder vorher wegfliegen, Sie sind Rekrut, Soldat.«
»Hm, das scheint mir doch etwas voreilig. Ich finde, man sollte selbst entscheiden können, ob man kämpft oder nicht.«
»Das kann man genausowenig, wie man entscheiden kann, ob man geboren wird oder nicht.«
»Aber ich treffe gern Entscheidungen«, sagte er. »Ich entscheide gern selbst, welchen Auftrag ich annehme, wohin ich gehe, was ich esse und mit welchen Freunden ich zusammen bin. Geht Ihnen das manchmal nicht auch so?«
Serafina Pekkala dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Vielleicht meinen wir nicht dasselbe, Mr. Scoresby. Hexen haben keinen Besitz, es interessiert uns deshalb auch nicht, einen Wert zu erhalten oder Gewinn zu machen. Und was die Wahl zwischen zwei Dingen angeht: Wer viele hundert Jahre lebt, weiß, daß jede Gelegenheit wiederkehrt. Wir haben andere Bedürfnisse. Ich sehe ein, daß Sie Ihren Ballon reparieren und instand halten müssen und daß das Zeit und Arbeit kostet, aber wir brauchen zum Fliegen nur den Zweig einer Wolkenkiefer abzureißen, einen beliebigen Zweig, und davon gibt es genügend. Wir frieren nicht, also brauchen wir keine warmen Kleider. Wir können nichts austauschen außer gegenseitiger Hilfe. Wenn eine Hexe etwas braucht, dann wird eine andere es ihr geben. Wenn ein Krieg ansteht, spielen bei unserer Entscheidung, ob wir kämpfen sollen oder nicht, die Kosten keine Rolle. Wir kennen auch keinen Ehrenkodex wie zum Beispiel Bären. Für einen Bären ist eine Kränkung eine tödliche Sache. Für uns ist das… unvorstellbar. Wie kann man eine Hexe kränken? Was würde es ausmachen?«
»Gut, soweit versteh ich Sie. Über Worte läßt sich trefflich streiten, aber sie sind den Streit nicht wert. Aber, Madame, ich hoffe, Sie verstehen mein Dilemma. Ich bin ein einfacher Aeronaut und würde meine Tage gern in Frieden beschließen. Mir vielleicht eine kleine Farm kaufen, mit ein paar Kühen, einigen Pferden… Wohlgemerkt, kein Luxus. Kein Palast, keine Sklaven oder Berge von Gold. Nur der
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