Der Goldene Kompass
mehr, Madame. Ich glaube, Iorek hat sich dem Mädchen als eine Art Beschützer angeschlossen. Sie hat ihm geholfen, seine Rüstung zurückzubekommen. Wer weiß schon, was Bären fühlen? Aber wenn je ein Bär einen Menschen geliebt hat, dann er sie. — Auf Svalbard zu landen war noch nie leicht. Immerhin, wenn ich mich darauf verlassen kann, daß Sie mich in die richtige Richtung ziehen, beruhigt mich das einigermaßen. Wenn ich mich dafür irgendwie revanchieren kann, lassen Sie es mich bitte wissen. Nur zu meiner Information: Könnten Sie mir sagen, auf wessen Seite ich in diesem unsichtbaren Krieg stehe?«
»Wir stehen beide auf Lyras Seite.«
»Oh, das bestimmt.«
Sie flogen weiter. Wie schnell sie flogen, war aufgrund der Wolken unter ihnen nicht zu sehen. Während man in einem Ballon den Wind normalerweise nicht spürt, weil er mit der Geschwindigkeit des Windes dahintreibt, bewegte er sich jetzt, gezogen von den Hexen, durch die Luft statt mit ihr. Der Luftwiderstand war dabei beträchtlich, da der gasgefüllte Ball nicht so stromlinienförmig und glatt war wie ein Zeppelin. Als Folge schwang der Korb hin und her und wurde viel stärker durchgeschüttelt als bei einem normalen Flug.
Lee Scoresby sorgte sich freilich weniger um seine Bequemlichkeit als vielmehr um seine Instrumente, deshalb überzeugte er sich, daß sie fest an den Verstrebungen des Korbes vertäut waren. Dem Höhenmesser zufolge befanden sie sich in zehntausend Fuß Höhe. Die Temperatur betrug minus zwanzig Grad. Lee Scoresby hatte schon kältere Temperaturen überstanden, allerdings nicht viel kältere, und er wollte nicht, daß sie noch weiter abfiel. Deshalb entrollte er die Zeltplane, die er für ein Notbiwak dabeihatte, und breitete sie vor den schlafenden Kindern als Windschutz aus. Dann legte er sich Rücken an Rücken mit seinem alten Waffenbruder Iorek Byrnison und schlief ein. Als Lyra aufwachte, stand der Mond hoch am Himmel, und um sie herum war alles wie mit Silber übergössen, von der unter ihr dahingleitenden Wolkendecke bis zu den Eiszapfen an den Leinen des Ballons.
Roger schlief noch, ebenso wie Lee Scoresby und der Bär. Doch neben dem Korb flog unermüdlich die Hexenkönigin.
»Wie weit ist es noch bis Svalbard?« sagte Lyra.
»Wenn wir keinen stärkeren Gegenwind bekommen, sind wir in zwölf Stunden dort.«
»Wo landen wir?«
»Das hängt vom Wetter ab. Natürlich werden wir die Felsenküste möglichst meiden. Dort leben Kreaturen, die alles fressen, was sich bewegt. Wenn es geht, setzen wir euch im Inneren ab, weit weg von Iofur Raknisons Palast.«
»Was geschieht, wenn ich Lord Asriel finde? Kommt er mit mir nach Oxford zurück? Ich weiß gar nicht, ob ich ihm sagen soll, daß ich weiß, daß er mein Vater ist. Vielleicht will er weiter so tun, als sei er mein Onkel. Ich kenne ihn ja kaum.«
»Er kommt sicher nicht mit nach Oxford, Lyra. Offenbar gibt es in einer anderen Welt etwas zu tun, und Lord Asriel ist der einzige, der die Kluft zwischen dieser anderen und unserer Welt überwinden kann. Allerdings braucht er dabei Hilfe.«
»Das Alethiometer!« rief Lyra. »Der Rektor von Jordan hat es mir gegeben, und ich hatte das Gefühl, er wollte etwas über Lord Asriel sagen, nur kam er dann nicht dazu. Ich wußte, daß er ihn nicht wirklich vergiften wollte. Vielleicht braucht Lord Asriel das Instrument, um zu erfahren, wie er die Verbindung zur anderen Welt herstellen kann. Ich wette, ich kann ihm dabei helfen. Ich lese das Instrument inzwischen wahrscheinlich so gut wie sonst kaum jemand.«
»Hm«, sagte Serafina Pekkala. »Wie er die Verbindung herstellen will und was seine genaue Aufgabe sein wird, wissen wir nicht. Es gibt Mächte, die zu uns sprechen, und Mächte über diesen, und es gibt Dinge, die selbst den höchsten Mächten verborgen sind.«
»Das Alethiometer würde es mir sagen! Ich kann es ja gleich probieren…«
Aber es war zu kalt, Lyra hätte das Instrument nicht in der Hand halten können. Sie wickelte ihren Pelz fester um sich und zog die Kapuze wegen des eisigen Windes so weit zu, bis nur noch ein Schlitz zum Durchsehen offen war. Vom Korbring des Ballons erstreckte sich ein langes Seil weit nach vorn; an ihm zogen sechs oder sieben Hexen, die auf Ästen aus Wolkenkiefer saßen. Die Sternen funkelten hell, kalt und hart wie Diamanten.
»Warum friert ihr Hexen nicht, Serafina Pekkala?«
»Wir spüren die Kälte, aber sie macht uns nichts aus, denn sie schadet uns nicht. Wenn wir uns
Weitere Kostenlose Bücher