Der Goldene Kompass
weiter. Lyra kaute auf einem Stück Seehundfleisch, das sie in ihrer Tasche gefunden hatte.
»Serafina Pekkala«, sagte sie nach einer Weile, »was ist dieser Staub? Denn mir scheint, daß es bei dem ganzen Streit immer um Staub geht, nur will mir keiner sagen, was das ist.«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Serafina Pekkala. »Die Hexen hat das nie interessiert. Ich weiß nur, daß man überall dort, wo es Priester gibt, Angst vor Staub hat. Mrs. Coulter ist natürlich keine Priesterin, aber dafür eine mächtige Agentin des Magisteriums. Sie hat die Oblations-Behörde gegründet und die Kirche dazu überredet, Bolvangar zu finanzieren, weil sie sich für Staub interessiert. Wir verstehen zwar nicht, warum, aber es gibt viele Dinge, die wir nicht verstehen. Wenn wir sehen, daß die Tataren sich Löcher in die Schädel bohren, können wir uns nur wundern. Staub mag also eine merkwürdige Sache sein, die wir nicht verstehen, aber wir geraten deshalb nicht in Panik und reißen Dinge auseinander, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Das überlassen wir der Kirche.«
»Der Kirche?« rief Lyra. Ihr war eingefallen, wie sie mit Pantalaimon in den Fens darüber gerätselt hatte, was wohl die Nadel des Alethiometers bewegte. Sie hatten sich an die Photomühle auf dem Hochaltar von Gabriel College erinnert, deren kleine Flügel von Elementarteilchen bewegt wurden. Der dortige Fürsprecher hatte ganz eindeutig von einem Zusammenhang zwischen Elementarteilchen und Religion gesprochen. »Könnte sein«, sagte sie und nickte. »Die Kirche hält ja so viele Sachen geheim. Aber dabei handelt es sich meist um ganz alte Dinge, und dazu gehört Staub nicht, soviel ich weiß. Ich frage mich, ob Lord Asriel mir mehr darüber sagen kann…«
Sie gähnte.
»Ich lege mich lieber wieder hin«, sagte sie zu Serafina Pekkala, »sonst erfriere ich wahrscheinlich noch. Ich hab schon drunten auf der Erde gefroren, aber so kalt wie jetzt war mir noch nie. Ich glaube, ich sterbe, wenn mir noch kälter wird.«
»Dann leg dich hin und wickle dich gut in die Pelze ein.«
»Das mach ich. Aber wenn ich sterben müßte, dann viel lieber hier oben als unten. Als wir uns unter dieses Messer stellen mußten, glaubte ich schon, das sei das Ende… Wir glaubten es beide. Es war schrecklich. Aber jetzt legen wir uns hin. Weck uns, wenn wir ankommen.« Unbeholfen und mit vor Kälte starren und schmerzenden Gliedern legte Lyra sich auf die am Boden ausgebreiteten Felle und kuschelte sich so dicht wie möglich an den schlafenden Roger.
Und schlafend schwebten die vier Reisenden in ihrem eisverkrusteten Ballon weiter auf die Felsen und Gletscher, die Feuerminen und Eisburgen von Svalbard zu.
Serafina Pekkala rief Lee Scoresby etwas zu, und dieser fuhr aus dem Schlaf hoch, noch ganz benommen vor Kälte. Er merkte sofort an der Bewegung des Ballons, daß etwas nicht stimmte. Geschüttelt von starken Böen, schwang der Ballon heftig hin und her, und die Hexen konnten das Seil, an dem sie ihn zogen, kaum noch halten. Wenn sie losließen, würde der Ballon sofort abgetrieben werden, und ein kurzer Blick auf den Kompaß sagte dem Aeronauten, daß sie dann mit einer Geschwindigkeit von fast hundert Meilen pro Stunde auf Nowaja Semlja zurasen würden.
»Wo sind wir?« hörte Lyra ihn rufen. Die heftigen Bewegungen hatten sie aus dem Schlaf gerissen, und ihre Glieder waren taub vor Kälte.
Sie hörte nicht, was die Hexe antwortete, aber durch ihre halbgeschlossene Kapuze sah sie im Schein einer anbarischen Laterne, wie Lee Scoresby sich an eine Verstrebung klammerte und an einem Seil zog, das vom Ballon herunterhing. Er zog einmal kräftig daran, als ob es sich verklemmt hätte, sah in das von Windstößen durchtobte Dunkel hinauf und schlang das Seil dann um einen Pflock am Korbring.
»Ich lasse etwas Gas ab«, rief er Serafina Pekkala zu. »Wir müssen runter, wir fliegen viel zu hoch.«
Die Hexe rief etwas als Antwort, aber wieder konnte Lyra nichts verstehen. Neben ihr wachte Roger auf. Das Knarren des Korbes hätte den tiefsten Schläfer geweckt, von dem heftigen Schaukeln und Rütteln ganz zu schweigen. Rogers Dæmon und Pantalaimon klammerten sich wie Krallenaffen aneinander, und Lyra versuchte, ganz ruhig liegenzubleiben und nicht in Panik zu geraten.
»Alles bestens«, sagte Roger fröhlich, während Lyra gar nicht wohl in ihrer Haut war. »Sobald wir unten sind, machen wir Feuer und wärmen uns auf. Ich habe ein paar Streichhölzer in
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