Der Goldene Kompass
der Tasche, die ich in Bolvangar aus der Küche geklaut habe.«
Der Ballon sank tatsächlich, denn im nächsten Augenblick umhüllte sie eine dicke, eisige Wolke. Nebelfetzen flogen durch den Korb, und plötzlich wurde alles dunkel. Es war der dickste Nebel, den Lyra je erlebt hatte. Dann hörten sie wieder Serafina Pekkala etwas rufen, und der Aeronaut wickelte das Seil vom Pflock und ließ es los. Es sprang durch seine Hände nach oben, und Lyra hörte oder spürte über dem Knarren des Korbes und dem Rütteln und Heulen des Windes in den Leinen irgendwo weit oben einen gewaltigen, dumpfen Schlag.
Lee Scoresby sah Lyras aufgerissene Augen.
»Das ist das Gasventil«, rief er. »Es arbeitet mit einer Feder und hält das Gas im Ballon. Wenn ich daran ziehe, entweicht oben Gas, und wir verlieren an Auftrieb und sinken.«
»Sind wir denn schon…«
Lyra konnte den Satz nicht beenden, denn etwas Schreckliches geschah. Eine Kreatur, halb so groß wie ein Mensch, mit ledrigen Flügeln und gebogenen Klauen kroch über den Rand des Korbes und auf Lee Scoresby zu. Sie hatte einen flachen Kopf, hervorquellende Augen und ein breites, froschähnliches Maul und sonderte Schwaden eines entsetzlichen Gestanks ab. Bevor Lyra schreien konnte, hatte Iorek Byrnison die Tatze ausgestreckt und die Kreatur weggeschubst. Sie fiel aus dem Korb und verschwand mit einem gellenden Schrei.
»Ein Klippenalp«, sagte Iorek kurz.
Im nächsten Moment erschien Serafina Pekkala und hielt sich am Rand des Korbes fest.
»Die Klippenalpe greifen an«, sagte sie eindringlich. »Wir bringen den Ballon jetzt nach unten, und dann müssen wir uns verteidigen. Sie sind…«
Der Rest ihrer Worte ging in einem markerschütternden Reißgeräusch unter, dann kippte alles zur Seite. Ein furchtbarer Schlag wirbelte die drei Menschen an die Wand des Korbes, an der Iorek Byrnisons Rüstung lag. Iorek streckte seine mächtige Tatze aus, um zu verhindern, daß sie hinausfielen, denn der Korb schwankte immer heftiger. Serafina Pekkala war verschwunden. Der Lärm war ohrenbetäubend, und über allem war das Kreischen der Klippenalpe zu hören. Lyra sah, wie sie um den Korb schössen, und roch ihren faulen Gestank.
Dann folgte ein zweiter Schlag, so plötzlich, daß er sie wieder auf den Boden warf, und der Korb begann, sich um die eigene Achse drehend, mit furchterregender Geschwindigkeit zu sinken. Es war, als hätte er sich vom Ballon losgerissen und fiel nun, durch nichts mehr gehalten, ins Bodenlose. Eine weitere Serie von Schlägen und Stößen folgte, und der Korb wurde so schnell von einer Seite zur anderen geworfen, als springe er zwischen zwei Felswänden hin und her.
Als letztes sah Lyra, wie Lee Scoresby mit einer langen Pistole mitten in das Gesicht eines Klippenalps feuerte. Dann machte sie die Augen fest zu und hielt sich in panischer Angst an Iorek Byrnisons Fell fest. Gellende Schreie, das Peitschen und Pfeifen des Windes und das Knarren des Korbes wie eine gequälte Kreatur erfüllten die turbulente Luft mit einem entsetzlichen Lärm.
Ein gewaltiger Ruck erschütterte den Korb, und Lyra verlor jeden Halt und wurde hinausgeschleudert. Der Aufprall verschlug ihr den Atem, und sie wußte nicht mehr, wo oben und unten war. Ihr Gesicht in der fest zugezogenen Kapuze war über und über mit einem Pulver bedeckt, das aus trockenen, kalten Kristallen bestand…
Es war Schnee; sie war in einer Schneewehe gelandet. Sie war so zerschlagen, daß sie kaum denken konnte. Einige Sekunden lang blieb sie wie tot liegen, dann begann sie kraftlos, den Schnee in ihrem Mund auszuspucken, und genauso kraftlos schneuzte sie sich, um wenigstens etwas Luft durch die Nase zu bekommen. Sie schien nicht verletzt zu sein, sie fühlte sich lediglich völlig ausgepumpt. Vorsichtig bewegte sie Hände, Füße, Arme und Beine und hob den Kopf.
Sie konnte nichts sehen, weil ihre Kapuze immer noch mit Schnee gefüllt war. Mit großer Anstrengung, als ob jede ihrer Hände eine Tonne schwer sei, wischte sie sich den Schnee aus den Augen und spähte nach draußen. Sie sah eine Welt ganz in Grau, in hellen und dunklen Grautönen und in Schwarz, durch die geisterhafte Nebelschwaden waberten.
Die einzigen Geräusche, die sie hörte, waren die entfernten Schreie der Klippenalpe hoch über ihr und in einiger Entfernung das Donnern einer Brandung.
»Iorek!« rief sie. Ihre Stimme war schwach und zittrig. Sie versuchte es noch einmal, aber niemand antwortete. Dann rief sie nach
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