Der Goldene Kompass
Roger, doch ebenfalls vergeblich.
Sie hätte allein auf der Welt sein können, was sie natürlich nicht war, denn in diesem Augenblick kroch Pantalaimon in Gestalt einer Maus aus ihrem Anorak, um ihr Gesellschaft zu leisten.
»Ich habe das Alethiometer überprüft«, sagte er, »es funktioniert noch. Es ist nichts zerbrochen.«
»Wir sind verloren, Pan!« sagte Lyra. »Hast du die Klippenalpe gesehen? Und wie Mr. Scoresby auf sie schoß? Wenn die uns hier entdecken, dann gnade uns Gott…«
»Vielleicht sollten wir den Korb suchen«, sagte Pantalaimon.
»Wir dürfen nicht rufen«, sagte sie. »Ich habe es gerade getan, aber die Klippenalpe könnten uns hören. Wenn ich nur wüßte, wo wir sind.«
»Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir es nicht wissen«, sagte Pantalaimon. »Vielleicht sitzen wir am Fuß eines Felsens, zu dem kein Weg hinaufführt, und sind den Klippenalpen ausgeliefert, sobald sich der Nebel lichtet.«
Lyra ruhte noch einige Minuten aus, dann tastete sie durch den Nebel und stellte fest, daß sie in einem Spalt zwischen zwei eisbedeckten Felsen gelandet war. Eisiger Nebel hüllte alles ein. Die Brandung auf der einen Seite schien, dem Lärm nach zu schließen, etwa fünfzig Meter entfernt, die Schreie der Klippenalpe über ihr schienen etwas leiser geworden zu sein. Lyra konnte nicht weiter als zwei bis drei Schritte sehen, und sogar Pantalaimon war trotz seiner Eulenaugen hilflos.
Mühsam und immer wieder ausrutschend und stolpernd, kletterte Lyra über die unebenen Felsen von der Brandung weg den Strand hinauf. Wohin sie auch sah, sie erblickte nur Felsen und Schnee, von dem Ballon und seinen Passagieren keine Spur.
»Sie können doch nicht spurlos verschwunden sein«, flüsterte sie.
Pantalaimon sprang in Gestalt einer Katze über die Felsen neben ihr und stieß dabei auf vier schwere Sandsäcke, die aufgeplatzt waren. Der ausgelaufene Sand war bereits steinhart gefroren.
»Ballast«, sagte Lyra. »Lee Scoresby muß die Säcke abgeworfen haben, um wieder aufzusteigen.«
Sie schluckte hart, um den Klumpen in ihrer Kehle oder die Angst in ihrer Brust oder beides nicht aufsteigen zu lassen. »Mein Gott, ich hab Angst«, sagte sie. »Hoffentlich ist ihnen nichts Schlimmes passiert.«
Pantalaimon sprang auf ihren Arm und verschwand in Gestalt einer Maus in ihrer Kapuze. Lyra hörte ein Geräusch, wie ein Kratzen auf Stein, und drehte sich um.
»Iorek!«
Aber sie brach mitten im Wort ab, denn das war nicht Iorek Byrnison, sondern ein fremder Bär in einer glänzenden Rüstung. Die Wassertropfen auf der Rüstung waren gefroren, und auf dem Helm wippte ein Federbusch.
Der Bär blieb etwa zwei Meter vor ihr stehen, und Lyra hielt ihr Ende für gekommen.
Dann riß der Bär das Maul auf und brüllte. Die Klippen warfen das Echo zurück, und das Kreischen über ihr verstärkte sich. Aus dem Nebel tauchte ein zweiter Bär auf, und dann noch einer. Lyra erstarrte und ballte ihre kleinen Fäuste.
Die Bären bewegten sich nicht. Dann sagte der erste: »Name?«
»Lyra.«
»Woher kommst du?«
»Vom Himmel.«
»In einem Ballon?«
»Ja.«
»Komm mit. Du bist unsere Gefangene. Los jetzt! Schnell!« Müde und verängstigt stolperte Lyra hinter dem Bären über die harten, rutschigen Felsen. Sie wußte nicht, wie sie sich aus dieser Situation je wieder herausreden sollte.
Gefangen
Die Bären führten Lyra eine Felsrinne hinauf, in der der Nebel noch dicker lag als an der Küste. Die Schreie der Klippenalpe und das Donnern der Wellen wurden leiser, je höher sie stiegen, und bald war nur noch das ewige Schreien der Seevögel zu hören. Schweigend stiegen sie über Felsen und Schneewehen, und obwohl Lyra angestrengt in das sie umgebende Grau starrte und auf ein Geräusch ihrer Freunde lauschte, hatte sie das Gefühl, der einzige Mensch auf Svalbard zu sein. Und Iorek war vielleicht tot.
Der Bärenfeldwebel sagte nichts, bis sie ebenes Gelände erreicht hatten. Dort hielten sie an. Dem Geräusch der Brandung nach zu schließen, standen sie oben auf den Klippen, aber Lyra wagte es nicht, wegzurennen, aus Furcht, dabei über den Rand zu fallen.
»Schau nach oben«, sagte der Bär, als ein leichter Wind aufkam und den dichten Nebel vor ihnen teilte.
Zwar wurde es dadurch nicht viel heller, aber Lyra blickte gehorsam nach oben und sah, daß sie am Fuß eines gewaltigen steinernen Gebäudes stand. Es war mindestens so hoch wie der höchste Turm von Jordan College, hatte aber viel dickere
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