Der Goldene Kompass
um am Ufer entlangzulaufen, auf Deck herumzuklettern, Schleusentore aufzuziehen oder ein Tau aufzufangen, das vom Ufer herübergeworfen wurde.
Denn natürlich durfte niemand sie sehen. Tony Costa erzählte ihr den Klatsch aus den Kneipen am Ufer: Im ganzen Königreich wurde Jagd auf ein kleines blondes Mädchen gemacht; für seine Ergreifung war eine große Belohnung ausgesetzt worden, während jedem, der sie versteckte, eine harte Strafe drohte. Außerdem kursierten die seltsamsten Gerüchte. So wurde behauptet, sie sei das einzige Kind, das den Gobblern entkommen sei, und kenne schreckliche Geheimnisse. Einem anderen Gerücht zufolge war sie kein Menschenkind, sondern ein Doppelgeist, halb Kind, halb Dæmon, der im Auftrag teuflischer Mächte die Erde vernichten sollte, und wieder anderen Gerüchten zufolge war sie kein Kind, sondern eine durch einen Zauberspruch geschrumpfte Erwachsene im Sold der Tataren, die das englische Volk auszuspionieren und eine tatarische Invasion vorbereiten sollte.
Am Anfang hörte sich Lyra solche Geschichten noch gern an, später war sie darüber verzweifelt. Daß so viele Menschen sie haßten und fürchteten! Sie hielt es kaum noch in ihrer engen, kistenartigen Kabine aus und sehnte sich danach, endlich im Norden zu sein, auf weiten, verschneiten Flächen unter dem gleißenden Licht der Aurora. Und manchmal wäre sie am liebsten wieder in Jordan College gewesen und mit Roger über die Dächer geklettert, bis eine halbe Stunde vor dem Essen die Glocke des Stewards läutete und Klappern, Brutzeln und Rufen aus der Küche drang… Dann wünschte sie inbrünstig, daß sich nie etwas geändert hätte, daß alles immer gleich wäre und sie für immer und ewig die Lyra aus Jordan College bleiben könnte.
Das einzige, das ihre Langeweile und Gereiztheit vertrieb, war das Alethiometer. Sie übte sich täglich im Lesen, manchmal zusammen mit Farder Coram, manchmal allein, und sie merkte, daß sie immer leichter jenen Zustand der Seelenruhe herstellen konnte, in dem sich die Symbole von selbst erklärten und, von einem Sonnenstrahl getroffen, jenes ferne Gebirge aufleuchtete.
Sie bemühte sich, Farder Coram ihr Gefühl zu erklären. »Es ist fast, als ob man sich mit jemandem unterhält, bloß daß man die anderen nicht genau verstehen kann, und weil sie klüger sind als man selber, kommt man sich irgendwie blöd vor, obwohl die anderen deshalb nicht böse sind… Und was sie alles wissen, Farder Coram! Eigentlich alles! Mrs. Coulter war so klug und wußte immer so viel, aber das hier ist eine andere Art von Wissen… mehr eine Art Verstehen, glaube ich…«
Oft stellte Farder Coram bestimmte Fragen, und Lyra suchte nach den Antworten.
»Was macht Mrs. Coulter gerade?« wollte er einmal wissen, und sofort begann Lyra, an den Zeigern zu drehen. »Erkläre mir doch, was du tust«, bat er.
»Also, die Madonna ist Mrs. Coulter, und wenn ich den Zeiger auf sie richte, denke ich: meine Mutter. Die Ameise steht für beschäftigt — das ist leicht, das ist die erste Bedeutung. Und das Stundenglas hat als eine seiner Bedeutungen die Zeit, und eine andere Bedeutung ist jetzt, und darauf konzentriere ich mich.«
»Woher weißt du, unter welchen Symbolen diese Bedeutungen liegen?«
»Ich sehe sie. Oder besser gesagt, ich fühle sie, als wenn man nachts eine Leiter hinuntersteigt und mit dem Fuß Sprosse für Sprosse abtastet. So taste ich in Gedanken Bedeutung für Bedeutung ab und ahne irgendwie den Sinn. Dann füge ich alles zusammen. Das ist, als wenn man die Augen auf etwas scharfstellt.«
»Dann mach das jetzt, und versuche herauszubekommen, was das Alethiometer sagt.«
Lyra tat, wie ihr geheißen. Sofort schlug die lange Nadel aus, hielt an, pendelte weiter und blieb wieder stehen, in einer präzisen Abfolge von Schwüngen und Pausen. Lyra fühlte sich dabei leicht und beschwingt wie ein junger Vogel, der das Fliegen lernt. Farder Coram, der ihr vom anderen Tischende aus zusah, merkte sich die Stellen, an denen die Nadel stehenblieb, und beobachtete Lyra aufmerksam. Das kleine Mädchen strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und kaute auf der Unterlippe, während seine Augen zunächst der Nadel folgten, dann aber, sobald diese sich eingependelt hatte, zielbewußt zu anderen Stellen des Zifferblattes wanderten. Als Schachspieler kannte Farder Coram den Blick, mit dem Schachspieler während einer Partie das Schachbrett betrachten. Und wie das Brett für einen erfahrenen Spieler ein Feld
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