Der Goldene Kompass
von Kräften zu sein scheint, das er für seine Züge nutzt, schien auch Lyras Blick auf ein ähnlich magnetisches Feld gerichtet, das sie — im Unterschied zu ihm — sehen konnte.
Die Nadel blieb bei den Symbolen Blitz, Kleinkind, Schlange, Elefant und bei einem Wesen stehen, dessen Namen Lyra nicht kannte, einer Art Echse mit großen Augen und einem Schwanz, der sich um den Zweig ringelte, auf dem sie saß. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte Lyra, wie die Nadel immer wieder in dieser Reihenfolge um das Zifferblatt kreiste.
»Was bedeutet die Echse?« fragte Farder Coram in die konzentrierte Stille hinein.
»Sie ergibt keinen Sinn… Wahrscheinlich verstehe ich da etwas falsch. Der Blitz bedeutet glaube ich Zorn, und das Kind … bin wohl ich… Ich hatte auch schon fast die Bedeutung von diesem Echsending, aber als Sie mich fragten, war sie wieder weg. Sie ist irgendwo, aber ich kann sie nicht fassen.«
»Verstehe. Tut mir leid, Lyra. Bist du jetzt müde? Willst du lieber aufhören?«
»Nein«, sagte Lyra, ihre Wangen glühten, und ihre Augen glänzten. Sie war völlig überdreht, wozu auch die lange Gefangenschaft in der stickigen Kabine beigetragen hatte.
Farder Coram blickte zum Fenster hinaus. Draußen war es fast dunkel, und sie passierten die letzte Strecke des Binnenlandes; bald würden sie die Küste erreichen. Unter dem düsteren Himmel erstreckte sich die weite, schmutzigbraune Wasserfläche einer Flußmündung; in der Ferne konnte man verrostete und von Rohrleitungen überzogene Kohlenspiritustanks erkennen und daneben eine Raffinerie, aus der dicker Rauch quoll und träge zu den Wolken aufstieg.
»Wo sind wir?« fragte Lyra. »Darf ich kurz raus, Farder Coram?«
»Wir sind in der Bucht von Colby«, antwortete er. »Das ist die Mündung des Cole. Wenn wir in Colby sind, machen wir am Räuchermarkt fest und gehen dann zu Fuß zu den Docks. In ein bis zwei Stunden sind wir dort…«
Weil es bereits dunkel wurde und in der endlosen Weite der Bucht kein Schiff zu sehen war außer ihrem eigenen Boot und einem weit entfernten, mit Kohle beladenen Lastkahn, der sich langsam auf die Raffinerie zuschob, und weil Lyra so überspannt und müde war und so lange hatte drinnen bleiben müssen, sagte Farder Coram schließlich: »Na gut, ich glaube nicht, daß ein paar Minuten an der frischen Luft schaden können. Obwohl die Luft alles andere als frisch ist, denn der Wind kommt heute nicht vom Meer. Geh ruhig an Deck und sieh dich um, bis wir näher an der Stadt sind.«
Lyra sprang auf, und Pantalaimon verwandelte sich augenblicklich in eine Möwe. Er konnte es kaum erwarten, seine Flügel im Freien auszubreiten. Draußen war es kalt, und obwohl Lyra warm eingemummt war, fröstelte sie schon bald. Pantalaimon aber stieg mit lautem Freudenkrächzen hoch hinauf, kreiste über dem Boot, ließ sich herabfallen und stand im nächsten Moment vor dem Bug und dann wieder hinter dem Heck. Lyra freute sich mit ihm am Fliegen, und in Gedanken feuerte sie ihn an, den Dæmon des alten Steuermanns, einen Kormoran, zu einem Rennen zu provozieren. Der Kormoran beachtete ihn freilich nicht, sondern ließ sich schläfrig auf der Ruderpinne neben seinem Herrn nieder.
Nichts rührte sich in der öden, braunen Weite, und nur das stetige Tuckern des Motors und das gedämpfte Klatschen der Wellen am Bug durchbrachen die tiefe Stille. Schwere Wolken hingen tief am Himmel, ohne daß es regnete, und darunter zogen trübe Rauchschwaden vorbei. Das einzige Lebenszeichen war Pantalaimon, der ausgelassen und elegant wie ein Pfeil den Himmel durchschnitt.
Als er sich nach einem Sturzflug wieder mit ausgebreiteten, vor dem Himmelgrau weiß aufleuchtenden Flügeln emporschwang, wirbelte auf einmal etwas Schwarzes durch die Luft und stieß mit ihm zusammen. Vor Schreck und Schmerzen wie benommen, taumelte er durch die Luft, und Lyra, die seine heftigen Schmerzen spürte, schrie laut auf. Plötzlich tauchte noch ein zweites kleines, schwarzes Wesen auf; beide flogen nicht wie Vögel, sondern wie Käfer schwerfällig und mit einem brummenden Geräusch.
Im Fallen versuchte Pantalaimon abzudrehen, um sich ins Boot und Lyras verzweifelt geöffnete Arme zu retten, aber die mordlüsternen schwarzen Kreaturen stießen weiter brummend und surrend nach ihm. Lyra war vor Angst — Pantalaimons und ihrer eigenen — halb wahnsinnig, als plötzlich etwas an ihr vorbei nach oben rauschte.
Es war der Dæmon des Steuermanns. So plump und
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