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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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über das Alethiometer unterhalten. Geh jetzt und beschäftige dich eine Weile allein, mein Kind; wir lassen dich rufen.«
    Ziellos wanderte Lyra umher und setzte sich schließlich auf das schilfbewachsene Ufer und warf Schlammklumpen ins Wasser. Soviel stand fest: Sie war weder froh noch stolz darüber, das Alethiometer lesen zu können — sie hatte Angst. Welche Macht die Nadel auch ausschwingen und anhalten ließ, sie wußte Dinge wie ein intelligentes Wesen.
    »Wahrscheinlich ein Geist«, sagte Lyra, und einen Augenblick lang war sie versucht, das kleine Ding im hohen Bogen in den Sumpf zu werfen.
    »Ich würde es sehen, wenn da ein Geist drin wäre«, sagte Pantalaimon. »Wie den alten Geist in Godstow, den ich ja auch sehen konnte, aber du nicht.«
    »Aber es gibt verschiedene Sorten Geister«, sagte Lyra verärgert. »Und du kannst auch nicht alle sehen. Und erinnerst du dich nicht an die toten Wissenschaftler ohne Köpfe? Ich hab sie gesehen, vergiß das nicht.«
    »Das war doch bloß ein Spuk«
    »Stimmt nicht. Es waren richtige Geister, das weißt du ganz genau. Aber auf jeden Fall gehört der Geist, der die Nadel bewegt, zu einer anderen Sorte.«
    »Vielleicht ist es aber kein Geist«, sagte Pantalaimon hartnäkkig.
    »Was denn dann?«
    »Vielleicht… Vielleicht sind es Elementarteilchen.« Lyra schnaubte verächtlich.
    »Könnte doch sein!« beharrte Pantalaimon. »Erinnerst du dich an die Photomühle, die es in Gabriel College gab? Na bitte.«
    In Gabriel College wurde auf dem Hochaltar des Bethauses ein heiliger Gegenstand aufbewahrt, der, wie Lyra jetzt einfiel, ebenfalls in ein schwarzes Samttuch eingehüllt war. Sie hatte ihn gesehen, als sie den Bibliothekar von Jordan zu einem Gottesdienst in Gabriel College begleitet hatte. Auf dem Höhepunkt der Zeremonie hatte der Fürsprecher das Tuch gelüftet, und im Dämmerlicht war eine gläserne Glocke zum Vorschein gekommen, in deren Innern sich etwas befand, das Lyra aus der großen Entfernung nicht erkennen konnte. Erst als der Fürsprecher an einer Schnur zog, die ein Fenster weiter oben öffnete, und ein Sonnenstrahl genau auf die Glasglocke fiel, war es deutlich zu sehen gewesen, das kleine Ding, das aussah wie eine Wetterfahne mit vier Segeln, die auf einer Seite schwarz und auf der anderen weiß waren. Sobald Licht darauf fiel, fing das Ding an, im Kreis herumzuwirbeln. Wie der Fürsprecher erklärte, verdeutlichte es ein moralisches Prinzip, denn das Schwarz der Unwissenheit floh vor dem Licht, während das Weiß der Weisheit sich ihm entgegendrängte. Lyra nickte zu allem, was er sagte, aber die kleinen herumwirbelnden Fähnchen waren auch ohne ihre tiefere Bedeutung reizend anzusehen gewesen — bewegt nur durch die Kraft der Photonen, wie der Bibliothekar auf dem Heimweg nach Jordan erklärt hatte.
    Also hatte Pantalaimon vielleicht doch recht. Wenn Elementarteilchen eine Photomühle antreiben konnten, konnten sie sicher auch eine Nadel bewegen. Trotzdem ließ ihr das Problem keine Ruhe.
    »Lyra! Lyra!« Tony winkte von der Anlegestelle.
    »Komm her«, rief er. »John Faa erwartet dich im Zaal. Lauf, Mädel, es eilt!«
    John Faa empfing sie mit besorgter Miene im Kreis von Farder Coram und den anderen Anführern.
    »Lyra, mein Kind«, begann er, »Farder Coram hat mir erzählt, was du von diesem Instrument abgelesen hast. Leider muß ich dir mitteilen, daß der arme Jacob gerade gestorben ist. Ich denke, wir müssen dich jetzt doch mitnehmen, obwohl ich eigentlich dagegen bin. Ich habe dabei ein sehr ungutes Gefühl, aber es scheint keine andere Möglichkeit zu geben. Sobald Jacob begraben ist, wie es bei uns Brauch ist, brechen wir auf. Aber damit eins klar ist, Lyra: Du kommst mit, aber es wird keine Vergnügungsreise. Uns erwarten Schwierigkeiten und Gefahren. Farder Coram wird dich unter seine Fittiche nehmen. Falls du ihm Ärger machst oder ihn in Gefahr bringst, bekommst du meinen Zorn zu spüren. Jetzt beeil dich und sag Ma Costa Bescheid, und dann mach dich bereit.
    Obwohl um Lyra herum in den nächsten beiden Wochen mehr los war als je zuvor in ihrem Leben, schien die Zeit nicht vergehen zu wollen. Lyra selbst mußte endlos herumsitzen und sich in feuchten, dunklen Schränken verstecken, während draußen vor dem Fenster eine trostlose, regennasse Herbstlandschaft vorbeizog; sie schlief in der Nähe der Motorabgase und wachte dann mit Kopfschmerzen und Übelkeit auf, und, am allerschlimmsten, sie durfte kein einziges Mal ins Freie,

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