Der goldene Schwarm - Roman
die Schulter von Joes Gegner gebohrt, und nun hängt er dort – aufgespießt wie ein Schmetterling. Aus seinem Mund ertönt ein leises, kratzendes Zischen. Nach einem Moment beginnt er damit, die Schulter Stück für Stück von der Metallspitze abzuziehen.
Joe dreht sich um, rennt zur Tür und schlägt sie hinter sich zu. Polly Cradle steuert gerade den Walfänger auf den Kai zu.
»Bring uns bloß hier weg, verdammte Scheiße!«, schreit er, springt ins Boot und hängt dann schamvoll noch ein für ihn typischeres »Bitte!« an. Aber Polly hat den Walfänger ohnehin schon in eine scharfe Kurve gelegt und den Gashebel durchgedrückt, sodass das kleine Boot geradezu senkrecht im Wasser steht.
»Alles okay?«, brüllt sie gegen das Kreischen des Motors an.
»Ja.« Und dann, bei nüchterner Betrachtung der Tatsache, dass er gerade einen Mann an einer Regalwand aufgespießt hat, fügt er hinzu: »Nein. Ich habe jemanden verletzt. Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
»Es bedeutet, dass er nicht dich verletzt hat«, sagt sie mit Nachdruck und greift nach ihm, um sicherzustellen, dass noch alles an ihm dran ist.
Sie lassen den Walfänger bei Griff Watson zurück und schärfen ihm ein, er solle mit seiner Familie einen langen Frankreichurlaub machen. Als Griff zu erklären versucht, dass ihm das nicht möglich sei, versichert ihm Polly, dass das nötige Geld auf seinem Konto eingehen wird. Es sei besser, auf Nummer sicher zu gehen, sagt sie, und sie kenne ein Hotel, in dem seine Familie über alle Maßen verwöhnt werden wird. Es wird auch Arbeit für ihn und Abbie geben, wenn sie zurückkommen, und zwar ganz nach ihren Vorstellungen. Es werden sich Stellungen finden lassen, und für die Schulbildung der Kinder wird gesorgt sein. Alles wird so arrangiert werden, dass sich die Watsons nicht in den Fängen des Systems wiederfinden. In diesem Moment hat sich über ihnen der Cradle-Schirm geöffnet.
Joe beobachtet, wie sie auf dem schmalen Grat zwischen Wohltätigkeit und Bestechung wandelt, ohne Griff dabei vor den Kopf zu stoßen. Joe sagt nichts, bewundert ihr Geschick und fürchtet, dass seine großen, tollpatschigen Füße wieder alles zunichtemachen könnten, was sie erreicht hat. Dann steigen sie in ihr Auto, lassen das Lagerhaus hinter sich und machen sich auf einer Straße, die an einer bizarr bäuerlichen Landschaft mit Kühen und einem lilafarbenen Sonnenuntergang entlangführt, in die Wildnis von Hackney auf.
»Ich hätte das nicht geschafft«, sagt er zu ihr, während er die Kühe betrachtet. »Ich hätte nicht die richtigen Worte gefunden.«
Aber als Polly verkündet, dass ein Abenteuer ausreiche, wird Joe beharrlich und überzeugt sie – später ist sie vollkommen unfähig zu sagen, wie –, noch einen Zwischenstopp einzulegen, bevor sie nach Hause fahren.
IX
Frauen, die es in sich haben;
Der Schatz von Mansura;
Projekt Habbakuk
E die Banister, deren falscher Schnurrbart noch nach Tigerfleisch und Erotiktänzerin schmeckt, sitzt hoch oben im sechsten Stockwerk auf dem Fensterbrett der alten Mutter eines mordlüsternen Fürsten und gönnt sich ein paar Sekunden, um über die ungewöhnliche Entwicklung ihres Lebens nachzudenken. Ihr wird klar, dass sie keine Ahnung gehabt hat, was sie erwarten würde, aber wenn sie etwas erwartet hätte, wäre es ganz sicher etwas anderes gewesen. Dotty Cattys Schlafzimmer ist in einem feinen Rosaton mit vertikalen grünen Streifen tapeziert. Zur Einrichtung gehören ein Regal mit Fotografien und jede Menge Tische mit Zierdeckchen darauf. Eine Porzellankuh steht auf dem Kaminsims, deren Sockel verrät, dass es sich um ein Geschenk aus Salisbury handelt, und das Briefpapier auf dem rot-grünen Kartentisch wird von einem Metallmodell des Glockenturms von Westminster beschwert.
Und doch ist dies nicht die Dotty Catty, die sie beim Abendessen getroffen hat, nicht einmal die Autorin des Briefes, der sie hierher geführt hat. Die beleidigte alte Schachtel ist fort, und die geschwätzige Salonlöwin von einst ist ebenfalls nicht im Dienst. Dies ist die Witwe Khatun Dalan, die ein einfaches weißes Gewand trägt und deren alte Hände leicht in ihrem Schoß zittern. Ihr linker Daumen ist mit Ruß beschmiert – steckt sie ihre eigenen Lampen an? –, und sie sieht aus, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Nicht überraschend in dieser Situation. Dies ist ein großer Moment für sie. Ganz, ganz behutsam sein jetzt, damit die alte Dame es nicht mit der Angst zu tun
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