Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
Müllkippe der Stadt geborgen worden waren. Frankie stöhnte auf und zog eine Perlenkette ihrer Mutter daraus hervor.
    Edie führte sie weg von der Stadt, einen schmalen Pfad entlang bis zu einem Baumstumpf am Ufer eines trüben Sees.
    »Sie hassen uns so sehr«, flüsterte Frankie zwischen fassungslosem Schluchzen. »Meine Familie. Weil wir Hexen sind. Hakote. Kinder der See. Verwachsene Füße und Schatten. Weil wir die Welt sehen. Das hat meine Mutter immer gesagt.«
    »Ich verstehe das nicht«, gestand Edie in die Haare ihrer Geliebten hinein.
    Frankie schluckte. »Zahlen«, sagte sie nach einem Moment. »Immer Zahlen. Wir werden mit Zahlen im Kopf geboren, so wie ihr mit Augenlicht. Verstehst du? Deshalb sind wir Hexen.«
    »Weil ihr zählen könnt?«
    » Non , nicht ganz. Es ist schon so, aber es ist mehr als Zählen – und weniger. Es ist … alors … stell dir vor, ich wäre ein einfaches Bauernmädchen – was ich auch bin –, aber stell dir vor, es ist die Zeit von Ludwig XIV . Ich sehe ein Mühlrad. Ich sehe die Rotation und den Winkel, und ich sehe, dass es sich in dreißig bis vierzig Umdrehungen überdrehen und auseinanderbrechen wird. Ich weiß nicht, warum ich das weiß. Wie kann ich eine Periodizität ausdrücken, wenn ich nie gelernt habe zu schreiben? Wenn ich niemals ein Wort benötigt habe, um Rotation auszudrücken? Aber trotzdem laufe ich zum Müller und sage ihm, dass er das Mühlrad anhalten soll. Nun, der Müller ist ein reicher Mann, und das ist er nicht geworden, weil er auf dumme kleine Mädchen gehört hat. Er tut nichts. Das Rad bricht, und ein Mann stirbt. Jetzt bin ich eine Prophetin! Eine Hexe! Es ist alles meine Schuld! Verstehst du?«
    »Hakote.«
    »Zauberin. Ja. Also denken sie sich Geschichten aus. Lügen, Ausschmückungen. Und das Haus meiner Mutter ist nur noch eine Ruine, und alle, die ich geliebt habe, sind nicht mehr da. Weil die Menschen zu dumm sind, die einfache Wahrheit anzuerkennen, wenn sie sie hören, und stattdessen lieber die unfassbarsten Lügen glauben.« Woraufhin noch etwas anderes folgte, das Edie nicht ganz verstehen konnte, das aber klang wie: Bitte mach, dass sie flüchten konnten. Noch mehr Angehörige, mehr verletzliche Hexen. Mehr Zielscheiben.
    Mit Edie an ihrer Seite, holte Frankie weitere Informationen bei allen ein, die bereit waren, mit ihr zu sprechen. Sie erfuhr, dass ihre Mutter und ihre Onkel früh in eines der Lager des Vichy-Regimes gebracht worden und dort gestorben waren. Zwei weitere Verwandte – Edie war sich nicht sicher, wer genau – waren wohl über die Hügel an die Küste entkommen, aber in einem Schiffskonvoi gewesen, der von U-Booten versenkt worden war.
    Am folgenden Tag reisten sie weiter nach Deutschland. Es war nicht, wie Edie es sich vorgestellt hatte, keine ausgebrannten Panzer und geschlagene, dankbare Menschen.
    Es war wie nach einer schlimm verlaufenen Operation oder einem Grubenkampf in Kalkutta.
    Die edle Dame Deutschland hatte sich ein Messer ans eigene Gesicht gesetzt. In einem seltsamen, von sich selbst verblüfften Rausch hatte sie sich ihre stolze semitische Nase abgeschnitten und sich die braunen Roma-Augen ausgestochen. Und dann kamen ihre gewalttätigen Retter, die keineswegs vorsichtiger mit ihr verfuhren als sie selbst: Sie schlugen sie, verbrannten sie, stachen auf sie ein und konnten sich dann nicht darauf einigen, wem von ihnen sie nun gehören sollte, woraufhin sie sie salomonisch aufteilten (eine weitere bittere Ironie, die niemandem auffiel), und beide Parteien mit den Überbleibseln machten, was sie wollten.
    Im Regen, zwischen Schutt und verbogenem Metall, weinte Frankie Fossoyeur. Mit eingefallenen Wangen und offenem Mund sah sie ganz Deutschland wie auf einem Tisch vor sich ausgebreitet. Das Land hatte sich selbst ebenso sehr ausgelöscht, wie es ausgelöscht worden war. Eine wahrhaft passende europäische Tragödie: Fossoyeur bedeutet Totengräber .
    »Mehr Tote durch Lügen. Noch mehr Millionen.«
    Auf Edie Banister gestützt, würgte Frankie ihr Entsetzen aus und sog die Luft ein, die zur Hälfte aus Schlamm bestand.
    Wieder zu Hause in Edies Wohnung in Marylebone, weinte Frankie und klagte und starrte vor sich hin. Deutschland war ihr Feind gewesen, aber Frankreich hatte sie betrogen. Frankreich war für sie gestorben. Nie wieder würde sie den Louvre besuchen, niemals mit Edie in die Orangerie gehen, um Monets Seerosen zu sehen. Monet war ein Bastard und sein Stil lediglich ein Beweis seiner

Weitere Kostenlose Bücher