Der goldene Schwarm - Roman
nicht verstehen, warum alle applaudieren. Eine taube Stille legte sich über Europa, vom Snowdon bis zum Ararat. Edie Banister hatte – in Gestalt des Commander James – den Auftrag erhalten, Frankie von London aus nach Calais und von dort zum Haus ihrer Familie im ländlichen Frankreich zu begleiten.
»Sind Sie es, die den Krieg für uns gewonnen hat?«, fragte Edie in dem finsteren kleinen Schlafwagenabteil im Zug nach Süden.
»Nein«, sagte Frankie ernsthaft. »Ich würde sagen, dass ich nur für ein paar Prozentpunkte in der Abweichung des Endergebnisses verantwortlich bin. Die Leute vom Militär sind unfähig, eine klare Frage zu stellen. Wenn sie nur einen Weg sehen, um ans Ziel zu kommen, folgt für sie, dass es auch nur diesen einen Weg gibt. Ich habe sechs Wochen lang an einem Sonargerät gearbeitet, bevor ich nachweisen konnte, dass der Verwendungszweck, den sie für die neue Technik im Sinn hatten, ausgesprochen …« Aufgebracht winkte sie ab und starrte mürrisch aus dem Fenster. Dann schaute sie wieder Edie an und zwang sich zu einem Lächeln. »Es tut mir leid. Es war frustrierend. Und ich glaube nicht, dass dies eine angenehme Reise für mich werden wird. Es wird Seelenschmerzen geben. Aber es ist eine Freude, Sie zu sehen, Commander Banister.« Sie griff nach Edies Hand und lächelte breit und einladend. Dann rückte sie etwas näher heran. »Mehr als eine Freude, wenn ich ehrlich bin.«
»Frankie«, sagte Edie nach einem langen Augenblick, »mein Name ist Edith, und ich bin von weiblichem Geschlecht.«
Frankie nickte verblüfft. »Das weiß ich doch. Das Verhältnis Ihrer Hüften zu Ihrem Kopf ist mit männlicher Anatomie nicht vereinbar. Außerdem deutet die Beschaffenheit Ihrer Stimme, auch wenn sie im Klang recht tief ist, nicht auf das Vorhandensein eines …« Sie wedelte mit dem Finger und lehnte sich dann näher, um Edies Kehle zu berühren.
»Adamsapfel«, sagte Edie nach einem Moment.
»Ja! Ganz genau! Außerdem die Haut, die Augen, der Körpergeruch, die Hände …« Sie hatte ihre Hand nicht wegbewegt. Edie konnte spüren, wie der Mittelfinger an ihrem Hals neben dem Zeigefinger ruhte. Wenn sie sich nach vorn beugte, würde sie den Ringfinger, dann den kleinen Finger und schließlich die Handfläche und den Daumen spüren, den Unterarm und dann die ganze Frankie auf einmal.
»Ich wollte nur, dass wir uns darüber im Klaren sind«, sagte Edie. Sie verlagerte ihr Gewicht. Frankies Fingernägel streiften ihre Haut.
»Das sind wir«, sagte Frankie. »Ganz im Klaren.«
Wie lange sie dort gesessen hatten, konnte Edie später nie sagen. Irgendwann begannen sie, sich zu küssen, und die Strecke bis nach Marseille kam ihnen sehr kurz vor. Während sie sich auszog, stellte Frankie streng klar, dass sie nicht an exklusive Liebe glaubte, bei der es sich, wie sie sagte, um eine lächerliche Konstruktion des jüdisch-christlichen Patriarchats handele. Edie, die nie darüber nachgedacht hatte, stimmte zu und fragte sich halb abwesend, ob das jüdisch-christliche Patriarchat ein Komplott sei, auf das sie Abel Jasmine aufmerksam machen müsse oder eines, das er selbst erschaffen hatte. Doch darüber würde sie jetzt bestimmt nicht diskutieren.
Die Reise war leicht, die Ankunft schwer. Frankies Zuhause war niedergebrannt. Eine Pinzette und ein Kupfertopf lagen zerbrochen auf ihrem alten Herd neben einem einzelnen, verkohlten Schuh. Sie fragte nach ihrer Familie, nach ihren Verwandten, aber als die verbliebenen Bewohner des Ortes erst einmal wussten, wer sie war, weigerten sie sich, mit ihr zu sprechen. Die Jüngeren sahen aus, als schämten sie sich, und die Älteren wandten sich ab und murrten vor sich hin. Ein Soldat sagte, es sei wahrscheinlich, dass die Mitglieder von Frankies Familie als Vichy-Verräter denunziert worden waren.
»So was kam schon vor«, erklärte er und betrachtete die Stadt. »Sie haben mit dem Finger auf die Leute gezeigt, die sie nicht leiden konnten. Leute, die zu reich oder zu schön waren. Überall im besetzten Europa dasselbe. Hier ganz sicher.« Er warf mit einem Steinchen nach einem Mann, der einen Handwagen schob. »Die eine Hälfte der Welt im Krieg mit der anderen, gute französische Burschen kämpfen für ihre Freiheit, und diese Mistkerle hier unten haben nichts anderes zu tun, als alte Fehden auszutragen. Zum Teufel mit denen, sag ich. Aber irgendwie mussten sie wohl weiterleben, nehme ich an.« Er zeigte ihnen einen Haufen von Habseligkeiten, die aus der
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