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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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fehlen.
    Edie Banister hat nie sagen können, was Traum oder Albtraum gewesen ist in jenen langen, merkwürdigen Jahren von 1946 bis zum Ende des Jahrhunderts. Der Kalte Krieg hat alles eingerahmt, die große sowjetische Dampfwalze, die im Osten aufragte, und die beherzten Yankees im Westen – doch währenddessen hat Edie einen ganz anderen Krieg geführt: einen endlosen, dunklen, persönlichen Krieg gegen einen Feind, der nie wirklich verschwand. Es hat keine Rolle gespielt, wie oft sie Shem Shem Tsien besiegte. Jedes Mal ist er zurückgekehrt, und jede Niederlage machte ihn nur grausamer.
    Edie gibt die Hoffnung auf Schlaf auf. Indem sie sich am Kopfende abstützt und vorsichtig darauf achtet, Bastion nicht zu stören, erhebt sie sich und stellt sich in ihrem Zimmer im Pig & Poet nackt vor den Spiegel. Nein, sie ist leider keine zwanzig mehr. Nicht mal vierzig oder fünfzig, nein, nicht einmal achtzig, und doch sind immer noch Muskeln in ihren schmalen Armen. Und wenn ihre Gelenke auch protestieren, so werden sie sich bewegen, werden dienen, werden – wenn es absolut notwendig ist und im Wissen, dass der folgende Tag nur aus Schmerzen bestehen wird – durch die Schritte und Drehungen des federleichten Hiji-wasa gleiten, das Mrs Sekuni für ältere Kämpfer empfohlen hatte.
    Sie kämmt sich die Haare, bringt sie in Form und legt dann ihre nächste Identität an: ein strenges graues Kostüm und flache Schuhe – Edie, frisch von der Sonntagsschule, inklusive hässlicher Handtasche, die groß genug ist, um Bastion zu verbergen sowie einige andere Gegenstände, die sie sich kürzlich zugelegt hat.
    Das Auftauchen von Mr Biglandry in Rallhurst Court lässt darauf schließen, dass Billy Friend verhört worden ist, und wenn er ihren Namen preisgegeben hat, dann wahrscheinlich auch den von Joshua Joseph Spork. Aber Auftragsmörder … Das hat Edie nicht vorausgesehen. Einen Haftbefehl, natürlich – aber Killer, nein. Wenn Shem Shem Tsien noch leben würde, wäre das etwas anderes, aber das Alter und die zahlreichen Verletzungen haben gewiss inzwischen erreicht, was sie selbst nie vermocht hat. Der Opium-Khan wäre inzwischen hundertfünfundzwanzig Jahre alt. Nein, Shem ist tot – was bedeutet, dass entweder ein gänzlich Unbekannter oder der Geheimdienst ihres eigenen Landes versucht hat, sie zu liquidieren.
    Sie hat natürlich die Nachrichten gesehen, weiß, dass goldene Bienen über Kriegsschiffen, Städten, Börsen und Wohnhäusern kreisen, weiß, dass die Regierungen Zeter und Mordio schreien. Trotzdem hatte sie etwas Subtileres erwartet. Aber vielleicht verklärt sie ja auch bloß die Vergangenheit. Vielleicht hätte sogar Abel Jasmine ihren Tod angeordnet: Frühere Agentin startet im Alleingang die Revolution mit Weltuntergangsmaschine.
    Edie denkt an die hinter ihr liegenden Jahre und verspürt den Drang, sich selbst Ratschläge zuzurufen. Folge deinem Herzen, erschaffe die Welt, an die du glaubst. Regierungen versprechen alles, verändern aber nichts. Und vor allem: Vertraue Frankie.
    Schließlich weckt sie den Hund und verfrachtet ihn sanft in die gewünschte Position, wobei sie seinen gurgelnden Protest ignoriert. Bastion schätzt die Handtasche als Beförderungsmittel überhaupt nicht, was möglicherweise auch an den drei oder vier Tupperdosen liegen könnte, auf denen er sitzen muss und die nach Chemikalien und Klebeband riechen.
    Edie nimmt in Camden Town den Bus und lässt sich bis in den äußersten Westen der Stadt fahren. Dann wartet sie vor der katholischen Schule in der Goldmartin Street, bis diese ihre Schüler und Lehrer ausspeit, allesamt in grauen Uniformen, sodass sie plötzlich nur noch Teil eines Stroms aus streng gekleideten Frauen ist, die über den breiten Bürgersteig marschieren. Wenn ihr jemand gefolgt ist, hat sie ihm das Leben gerade ziemlich schwergemacht.
    Sie steigt die Treppe zur nächsten U-Bahn-Station hinab, macht dann sofort wieder kehrt und schlägt den Weg zu Harriet Sporks Konvent ein. Früher oder später, da ist sie sich sicher, wird sich Joe dorthin begeben, und das werden sich auch andere ausrechnen können.
    Die Liebe bringt Menschen dazu, dumme Dinge zu tun. Das macht, wie sie jetzt feststellt, diese Dinge aber noch nicht falsch.
    Der Krieg endete, und genau wie bei dem davor waren alle zu erschöpft, um zu jubeln. Die Menschen lächelten einander nicht wie siegreiche Helden an, sondern wie benommene Boxkämpfer mit zugeschwollenen Augen und aufgeplatzten Lippen, die

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