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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Kurzsichtigkeit, nicht seiner Genialität. Kein Genie war je aus Frankreich hervorgegangen. Keines. Nicht einmal Frankie. Sie war keine Französin. Sie war Hakote und weiter nichts.
    Sie würde arbeiten. Der Anschauungsapparat, ja. Die Wahrheit würde ans Licht kommen. Jeder würde sie sehen. Die Welt würde ehrlich werden, und die Menschheit wäre besser dran. Keine Lügen, niemals wieder.
    Edie brachte sie ins Bett und ließ sie fast eine ganze Woche lang nicht wieder heraus, und am Ende weinte sie nur noch selten. Edie brachte ihr Ölkreiden und Papier aus einem Künstlerbedarf in Reading, und Frankie skizzierte wieder und wieder Gesichter, die Edie nicht erkannte, berührte ihre Hand und sagte: »Ich liebe dich«, was sie noch nie zuvor getan hatte. Dann und wann hörte sie mit dem Zeichnen auf, schrieb Zahlen an die Wand und andere Symbole, die Edie nie gesehen hatte und die ausdrückten, wofür die gesprochene Sprache keine Begriffe hat. Es war das erste Mal, dass Edie sie von ihrem Buch sprechen hörte, in der schaurigen Lethargie, in die sie zwischen ihren manischen Ausbrüchen verfiel.
    Ich werde alles niederschreiben, wie Marie Curie! Nicht bloß Zahlen. Ich werde die Wahrheit erzählen. Es muss nicht so sein, Edie. Wir müssen nicht klein und dumm und schwach sein. Ich werde ein Buch schreiben, wie du noch keines zu Gesicht bekommen hast. Ein Buch der Wunder. Ein Buch der Hakote, und du wirst es lesen und es erblicken, und doch wirst du noch immer nicht glauben, was ich vollbracht habe!
    Frankies Handschrift war so schlecht, dass die meisten ihrer Worte lediglich aus Anfangsbuchstaben bestanden, auf die lange wacklige Striche folgten. Edie brachte ihr Tee und legte die Arme um sie, und Frankie ließ es zu, dass sie sie hielt. An den Abenden wickelten sie sich gemeinsam in eine Steppdecke, und Edie löste Kreuzworträtsel, während Frankie schrieb.
    Es war Winter, und nichts änderte sich bis 1948.
    Shem Shem Tsien war in Addeh Sikkim nicht gestorben.
    Edie war aufgefallen, wie er das Schlachtfeld aufgegeben und seine Soldaten in den Flammen hatte umkommen lassen. Sie hatte gesehen, wie er sich noch einen Moment Zeit dafür genommen hatte, dem gekreuzigten Bischof den Bauch aufzuschlitzen, damit der Mann nicht rasch, sondern qualvoll starb. Sie hatte auch erfahren, dass die darauffolgende Explosion es bedauerlicherweise nicht geschafft hatte, den Khan zu erwischen. Abel Jasmine hatte ihr die Berichte gezeigt, damit sie nicht überrascht sein würde, wenn sie ihm jemals wieder über den Weg lief. Edie hatte angenommen, dass Shem Shem Tsien damit beschäftigt sei, seine Zitadelle neu zu errichten, seine Wunden zu lecken und sich nach einem anderen Genie umzuschauen.
    Er tat nichts dergleichen. Bevor er Khaygul von Addeh Sikkim geworden war, war er bereits der Opium-Khan gewesen, Herr über den Heroinhandel in Europa und Asien. Sein Land war für ihn nicht viel mehr als ein Vergnügungspark gewesen, sein ganz persönlicher Brighton Pier. Seine Familie hatte er nicht etwa deshalb getötet, weil sie seinen großen Plänen im Wege gestanden hätte, sondern lediglich der Befriedigung seiner Launen. Er hatte es nicht nötig, der Herrscher eines Landes zu sein. Seine Macht lag in ihm selbst und in den Männern, die ihm dienten, und in seiner Vision. Ein Fürst des Schreckens ist nicht weniger ein Fürst, wenn das Land, das er führt, in Trümmern liegt.
    Trotzdem schien sein Hass auf James Banister nur noch von seiner Wut auf Dotty Catty übertroffen zu werden. Um ihr wehzutun, hieß es in dem Bericht, habe er ein System zur Folter von Elefanten entwickelt. Die gesetzlosen Berge, in denen er seine Festung hielt, hallten wider vom Heulen und Brüllen ihrer Agonie, und die Märkte Asiens waren voll von blutigem Elfenbein und den deformierten Köpfen seiner Opfer. Zudem hatte er verlauten lassen, Frankie Fossoyeur gehöre ihm. Wer immer ihm sein Genie zurückbrachte, würde mit Reichtum und Konkubinen und der Erfüllung all seiner Wünsche belohnt werden, vorausgesetzt, dass sie compos mentis war und arbeiten konnte.
    Abel Jasmine stellte für Frankie Bodyguards zur Verfügung, und Edie brachte ihr bei, wie man alles stehen und liegen ließ und außer Landes verschwand, ohne bei der Bank vorbeizugehen oder sich umzuziehen; wie man jemanden fand, der einen mit einem Pass versorgte, wie man sich in einer Stadt und wie auf dem Land unsichtbar machte. Frankie hielt all das für Unfug. Sie hörte kaum zu, doch am Ende

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