Der goldene Schwarm - Roman
seiner Mutter schlagartig in eine Vision aus einem Albtraum verwandelt, ein plötzlicher Blitz der Wut, wie er ihn nie bei ihr gesehen hat. Sie kämpft sich nach vorn und krallt ihre Hände gegen den Transporter, schreit wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen und fordert ihn zurück: Gebt ihn mir wieder, er gehört nicht euch, er ist mein Sohn.
Joe Spork windet sich wie Gulliver, der von den Liliputanern bedrängt wird. Sie halten ihn überall fest, und er kann sich nur noch aufbäumen. Wenn er eine Hand frei bekommen könnte, wäre er durchaus dazu in der Lage, einigen Schaden anzurichten. Er zuckt zur Seite und spürt, wie sich der Griff an einem seiner Handgelenke lockert. Es tut weh, aber er versucht es noch einmal, und noch einmal. Der Schraubstock rutscht über seinen Arm und reißt etwas Haut ab, aber dann ist seine Hand frei.
Was wäre verwundbar?
Augen geben nach. Kehlen. Nasen und Lippen. Auch Genitalien, aber durch viele Schichten von Stoff sind sie schwer auszumachen, und Männer wie Frauen lernen früh, diese Körperstellen instinktiv zu schützen.
Er reißt an einem der Gesichter, fühlt Haut und Augen unter der Kutte, hört einen Schrei, spürt, wie sie zurückweichen, sieht, wie jemand nach vorn geführt wird, jemand, der breite Schultern hat und schwer auf seinen Füßen steht. Ein blinder Ringer? Auch an diesem neuen Feind reißt er, aber der Ruskinit schlägt brutal seine Hand fort. Es tut weh, so wie es wehtut, wenn man mit dem Schienbein gegen einen Glastisch stößt. Es ist ihm egal, er holt wieder aus. Na, dann komm! Los geht’s! Dann wollen wir mal loslegen, du Bastard. Er klammert sich jetzt an dem Mann fest, spürt gewaltige, feste Glieder, während seine Finger nach den empfindlichen Stellen suchen, nach verwundbarem Fleisch. Er reißt die schwarze Stoffmaske herunter und schreit in wilder Freude auf, bevor ihm der Kriegsruf auf den Lippen erstirbt.
Er starrt in ein Gesicht aus Gold.
Ein Gesicht ohne Augen, mit einem zuschnappenden Schildkrötenkiefer und nur vagen Andeutungen von Gesichtszügen auf der polierten Oberfläche.
Keine Maske.
Ein Gesicht.
Ein Nicht-Gesicht. Ein Nicht-Mensch.
Die Ruskiniten schließen ihn ein. Sie haben ihn, und sie nehmen ihn.
Er schreit.
Dann drückt ihm irgendjemand etwas Kaltes auf den Mund, und er atmet ein.
XIII
Die Tage im Panoptikum;
Der Sargmann;
Flucht
D er Raum ist sehr klein. Mittig in jeder Wand, auf dem Fußboden und in der Decke, ist eine durchsichtige Scheibe eingelassen, hinter der sich jeweils eine Glühbirne befindet. Die Glühbirnen brennen immer. Hinter den Wänden oder in ihnen – Joe ist sich nicht sicher – befinden sich Lautsprecher. Manchmal dringen plärrend Befehle aus ihnen heraus. Manchmal Musik, sehr laut. Manchmal kreischen sie bloß, elektronisches Protestgeheul.
Er weiß nicht, wie lange es jetzt her ist, dass er versucht hat, einzuschlafen, oder wie lang sie ihn wach gehalten haben. Vor Kurzem glaubte er noch, es einigermaßen einschätzen zu können, da die Bartstoppeln auf seinem Kinn auf gerade mal einen Tag schließen ließen. Seit seiner Ankunft muss er mehrmals geschlafen haben, aber er weiß nicht, wie lange – einmal jedenfalls ist er aufgewacht, hat ein Geistergesicht dicht vor seinen Augen auftauchen sehen und gespürt, wie sich eine Rasierklinge sehr präzise über seine Wange bewegte. Er ist zurückgezuckt, oder besser gesagt: Er hat es versucht, musste aber feststellen, dass er fixiert worden war. Als er es weiter versuchte, hat ihm irgendjemand etwas Kaltes gegen seinen Nacken gepresst, und dann hat die Welt nur noch aus einem zischenden Licht bestanden, und er hat sehr viel geschrien.
Er vermutet, das kalte Ding war ein Taser. Das Stoffgesicht hat ihn anschließend ausdruckslos angeschaut, als wundere es sich, warum er sich so aufregt. Er fragt sich, ob es wohl menschlich gewesen ist oder wieder nur eine Fratze aus Gold.
Er fragt sich auch, ob er diesen Teil nur geträumt hat.
Als er nach dem Taser wieder zu sich gekommen ist, hat er sich auf unerklärliche und abstoßende Weise erregt gefühlt. Er überlegt, ob sie ihm wohl Drogen gegeben haben, und wenn ja, warum. Inzwischen aber ist ihm klar geworden, dass diese Art von innerem Selbstgespräch wohl genau das ist, wozu sie ihn verleiten wollen. Sie üben ihre Macht über ihn aus. Sie verfügen über sein Zeitgefühl, seinen Schlaf, seine Freiheit. Sein Körper gehört ihnen ganz und gar; es spielt nicht die geringste Rolle, ob sie ihm
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