Der goldene Schwarm - Roman
Tonstudio.
»Wenn ein gewöhnlicher Mensch mit den Erinnerungen Napoleons erwachen würde, würden die Menschen ihn als wahnsinnig bezeichnen.« Ein riesiges Gesicht füllt die Leinwand, elegant, schlank und grausam. Ein Mann, der gerade seine mittleren Jahre erreicht hat, seine Haut sehr rein und gebräunt, seine Züge eine undefinierbare Mischung unterschiedlicher Kulturen. Der Mund verzieht sich spöttisch. »Doch was wäre, wenn er mit vollkommen korrekten Erinnerungen erwachte, die nirgendwo sonst überliefert worden wären? Was, wenn er zudem mit Napoleons Gesicht erwachte? Und wenn sich dieser Mann schließlich ohne eigenen Geist aus seinem Bett erhöbe? Was, wenn John Smith nicht länger existierte und es an seiner Stelle eine körperlich wie geistig vollkommene Replik des Kaisers gäbe? Wann genau würden wir anerkennen, dass er mit jenem ersten Napoleon identisch ist? Dass es sich bei ihm nicht um eine bloße Kopie handelte, sondern um eine tatsächliche Reinkarnation? Was, wenn sich die Muster des Geistes messen ließen, und sich verifizieren ließe, dass sie identisch sind?«
Die Kamera fährt zurück. Der Mann liegt auf einem plüschigen, opulenten Bett, sein Körper ist mit Kabeln und Sensoren geschmückt. Weitere Kameras sind um ihn herum sichtbar, die ihn aus jeder Perspektive aufnehmen. Der Mann deutet seitlich auf eine kreisrunde Leinwand und zeigt auf ein oszillierendes Muster. Eine Welle.
»Dies ist mein Geist. Dies ist mein Körper. Macht euch meine Geschichte zu eurer eigenen. Nehmt sie vollständig auf, und werdet ein Teil von mir. Ein Teil von Gott.«
Joe Spork starrt einen Moment lang das schlanke, böse Gesicht von Bruder Sheamus an. Es hat eine Intensität an sich, eine Kraft, die zugleich fremdartig und vertraut erscheint. Sie erinnert ihn an jemanden. Und dann hört er die Schreie.
Die Schreie sind sehr heiser, sehr verzweifelt. Sie klingen tief, wie von einem Mann oder von einer sehr schweren Frau. Es ist kein Horrorfilmgeschrei, das dazu auserkoren ist, den Kronleuchter zum Klirren zu bringen. Es ist etwas vollkommen anderes, ein Säugetierlaut. Alarm. Vorsicht. Hier gibt es Tiger. Mich hat es erwischt.
Joe hat vor Kurzem denselben Laut von sich gegeben.
Um eine Ecke, durch eine Tür, noch eine Tür und dann:
Zwei Männer. Einer von ihnen ist Mr Ordinary.
Mr Ordinary starrt von seinem Stuhl aus eine weitere Person an, eine ganz andere Art von Person. Einen Tiger.
Der Tiger lächelt. Er hat einen dicken Bart und ergrautes Haar, das mit einem orangefarbenen Band zurückgebunden wurde. Seine Haut ist blass, aber ledrig. Gute Zähne, die an den Mundwinkeln leicht schief stehen.
Joe erkennt ihn nicht; weder seine Bewegungen noch sein Gesicht, nicht einmal seine Augen, bis ein Blick auf Mr Ordinary eine abstoßende, vollkommene Verzweiflung offenbart und dann – als der Folterer Joe in seinem Ruskiniten-Schleier bemerkt – die verzweifelte Hoffnung auf Rettung.
Es gibt wirklich nur eine Person hier, die derartig gefürchtet wird. Und nun, da er ihn direkt ansieht, erkennt auch Joe die Augen wieder.
Der Sargmann beugt sich zu Mr Ordinary herunter und bringt sein Gesicht dicht an das des anderen heran.
»Wo ist hier der Ausgang, Junge?« Seine Stimme ist belegt, und er lispelt. Diese schiefen Zähne in seinen Mundwinkeln: Die Bissschiene hat sie deformiert, und er ist noch nicht daran gewöhnt, sie nicht zu tragen, kann den Effekt noch nicht ausgleichen. Er wird Übung brauchen und einen guten Zahnarzt. Dessen ungeachtet liegt doch etwas Besonderes in seiner Stimme, als er das Wort Junge in die Länge zieht. Die Stimme eines Fischers.
»Er ist unten.«
»Ein Scheißdreck.« Ein Plymouth-Akzent mit einem leichten Londoner Einschlag vielleicht. Der Sargmann zuckt mit den Schultern und legt seine Hand sanft auf Mr Ordinarys Gesicht. Als er sie zurückzieht, hält er etwas Wabbliges in den Fingern, Mr Ordinary schreit erneut, dieses Mal scharf, und Joe erkennt, dass es sich um ein Ohr handelt. Der Sargmann wirft es beiseite. Dann spricht er weiter.
»Hab dich gesehen.« Er blickt zu Joe herüber. »Dich, mit dir spreche ich.« Er zuckt mit den Achseln. »Du bist nicht das, wonach du aussiehst. Ich weiß das.«
Joe wird klar, dass er noch immer das Schleiergewand trägt. Er nimmt es ab.
»Hab ich mir gedacht.« Der Sargmann nickt. »Hab’s wohl am Gang erkannt.«
»Wie bist du rausgekommen?«
»Na, irgendein Sauhund hat in den Ameisenhügel gestochen, oder? Hat alle
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