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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Balsam. Alles steht auf dem Kopf, denn nun fürchten sich die Folterer vor ihrem Opfer, und genau so will er die Welt haben. Die Welt, in der neue Regeln gelten.
    Er grinst vor sich hin, und als er Blut auf seiner aufgeplatzten Lippe schmeckt, wird sein Grinsen breiter. Die weißen Wände seiner Zelle haben eine eigentümliche Schönheit an sich: Die texturlosen Fliesen sind faszinierend, die trockene, geschmacksfreie Luft ist ein Fest auf seiner Zunge. Er spannt seine Beine und Arme an, spürt sich selbst, ist sich der Stärke jedes einzelnen Muskels, seiner Leistungsfähigkeit und seiner Grenzen bewusst. Er riecht seinen eigenen Körper, spürt seine Rippen und weiß, dass die Fettschicht, die sich dort seit Jahren angesammelt hat, verschwunden ist. Er ist nicht zerbrochen. Er ist hier tatsächlich im medizinischen Sinne gestorben. Vielleicht mehr als einmal, da ist er sich nicht sicher. Und doch lebt er. Er ist mehr er selbst als jemals zuvor. Er ist die verfeinerte Essenz seiner selbst.
    Er betrachtet sein Leben, und es ringt ihm ein Seufzen ab. Es liegt eine gewisse Kümmerlichkeit darin, zu sehen, wie töricht er gewesen ist, wie er in eine offensichtliche Falle getappt ist. So viel verschwendete Zeit … er folgt den Spuren seines Fehlers, nur um sicherzugehen, dass er sich nicht wiederholt.
    Daniel Spork hat immer gesagt, dass Mathew nichts taugte, dass es niemals eine Zeit gegeben hat, in der sein Sohn nicht seinem Vorteil hinterhergejagt wäre. Die Möglichkeit, dass Mathews Schlechtigkeit angeboren gewesen sein könnte, ließ er gar nicht erst an sich heran, sah sie lieber als ein von früher Kindheit an gelerntes Verhalten.
    Jetzt, da er von seiner neuen Bergspitze darauf hinunterschaut, kann Joe den Pfad ganz leicht nachverfolgen. Mathew war ein Flüchtling gewesen. Er war in eine Welt eingetreten, die beinahe sofort zerbrochen war. Er hatte bereits ohne seine Mutter auskommen müssen, bevor er überhaupt ihren Namen aussprechen konnte, und als sie zurückkehrte, tat sie dies auf eine seltsame, halbherzige Weise. Und sie wusste – genau wie er –, dass die Welt, die er bewohnte, von Grund auf falsch war. Mathew war auf fundamentale Weise nicht dazu imstande, die bequemen Lügen zu glauben, die den anderen Menschen das gesetzestreue Leben schmackhaft machen. Er erblickte um sich herum eine Welt im ständigen Kriegszustand. Sein Vater verlor Geld und drohte damit auch sein Geschäft zu verlieren, und das nur, weil er genau das tat, was ihm die Gesellschaft vorschrieb – die Gesellschaft war also eine Betrügerin. Daniel verbrachte sein Leben damit, immer mehr Dinge herzustellen, die wunderbar waren, versuchte verzweifelt, etwas zu erschaffen, das so schön sein würde, dass seine Göttin ihm nicht würde widerstehen können. Mathew wusste es besser. Er beobachtete und lernte und sah, dass sie immer nur dann auftauchte, wenn die Dinge auf furchtbare Weise kaputt waren.
    Also betrog auch er. Er ließ Daniels Welt im Stich, um sie zu bewahren, und aus dieser Lektion entwickelte sich sein gesamter Lebensweg. Er brach das Gesetz, knackte Safes, schlug Fensterscheiben ein, brachte den öffentlichen Frieden ins Wanken, und aus der Zerstörung zog er seinen Trost. Die größte Lüge war, dass die Welt so funktionierte, wie es von ihr erwartet wurde, und als er das einmal durchschaut hatte, war Mathew Spork frei.
    So wie seine Mutter frei war. Und so wie nun sein Sohn in seiner weißen Zelle, die ihm keine Angst mehr macht, frei ist.
    Draußen auf dem Korridor kann Joe Schritte hören. Die Ruskiniten kommen. Vielleicht auch Mr Ordinary. Sie erwarten, dass er verängstigt ist, so wie zuvor. Sie gehen davon aus, dass er wartet und seine Kräfte sammelt. Aber seine Kraft bezieht er nun aus dem Widerstand. Wenn er nachgibt, das weiß er, wird sie abebben, und er wird seine spektakuläre Selbstsicherheit verlieren. Das ist etwas, das er sich nicht leisten kann. Sie ist das Einzige, was ihm geblieben ist.
    Was nur eine Möglichkeit übrig lässt: den offenen Krieg. Jedes Mal, wenn die Tür aufgeht, wird er sie mit allem bekämpfen, was ihm zur Verfügung steht. Er wird sich nicht länger zurückhalten. Er wird sich ihnen entgegenwerfen, bis sie zerschellen – oder er.
    Die Tür geht auf, und er setzt sich in Bewegung.
    Er stellt sich ihnen mit einem Heulen entgegen, das zu einem Brüllen wird, und da sein Mund offen ist, beißt er in die Hand, die sich unklugerweise seinem Gesicht nähert. Er macht weiter, bis er

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