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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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eigentlich fährt, weil sie nicht wissen, wo sie sich befinden. Vaughn Parry hatte sich dafür ausgesprochen, auf freiem Feld in Deckung zu gehen, doch Joe hat ihn davon überzeugen können, dass sich die Stadt besser zum Verstecken eignet. Sie sind in den Bus gestiegen und haben »In die Stadt« gesagt.
    »Die Sache mit dem Aufzug war raffiniert, einen so auf den Kopf zu stellen. Clever ist das. War die Idee von deinem Bruder Sheamus, oder? Fiese Ideen hat der, würde ich sagen.«
    Joe Spork schaut Englands meistgesuchten Serienkiller an und fragt sich, ob es sich bei diesen Worten um die Bewunderung eines Kollegen handelt. Parry bemerkt es und seufzt erneut.
    »Ich bin nicht, wofür du mich hältst, Joe. Ich geb’s zu, zurzeit bin ich ein bisschen verwildert, aber ich bin da ’ne lange Zeit drin gewesen, und das war kein Spaß. Aber ich bin nicht, wofür du mich hältst.«
    »Ich bin mir nicht sicher, wofür ich dich halte.«
    Parry schaut ihn skeptisch an und nickt, nachdem er offenbar ihre Situation bedacht hat. »Du willst die Geschichte von Anfang an hören?«
    »Wie’s aussieht, haben wir eine lange Fahrt vor uns.«
    »Eine Stunde, hat er gesagt. Also schön.«
    Parry erzählt.
    Das Kinderzimmer im Haushalt der Parrys war mit Bildern von Vogelscheuchen dekoriert. In seinen Kindheitserinnerungen spielt der kleine Vaughn auf einem roten Bettvorleger mit Holzbauklötzen und erblickt, wenn er sich umsieht, zehn verschiedene schaurige Kohlrübengesichter und verdorrte Arme. Als Sohn eines Bestatters hatte er bereits im Alter von vier Jahren begriffen, dass alle Männer sterben müssen und alle Frauen auch. Er wuchs gefühllos auf und starr. Er mochte die anderen Kinder nicht, die scheinbar nicht wussten, was der Tod bedeutete. Wenn er mit solch einer offenkundigen Unabwendbarkeit kam, von welchem Wert konnte dann die Erde sein und das, was auf ihr existierte? Er lebte in einer alles einschließenden Dunkelheit, die er nicht durchdringen konnte. Er schlief mit eingeschaltetem Licht, bis sein Vater ihn zwang, es auszuschalten, und jede Nacht kämpften sie miteinander wie Hunde, knurrten und schnappten nacheinander. Seine Mutter war bereits gestorben, an Lungenentzündung. Er trat ins Bestattergeschäft ein, weil es ein ebenso guter Weg war, auf sein eigenes Begräbnis zu warten, wie jeder andere.
    »Und dann haben sie mich verdammt noch mal angeschmiert«, murmelt Parry. »Scheiß unheimlich, was? Haben einen Fuchs in eine Leiche eingenäht, was weiß ich. Ich bin fast aus den Latschen gekippt. Konnte mich anschließend an rein gar nichts mehr erinnern, und dann erzählt mir irgend so ein alter Typ, ich wär ein Monster. Ich habe Scheißdreck gesagt und bin rausgestürmt.«
    Er ließ sich treiben. Irgendwann stieg er ins Kosmetikgeschäft ein, eine Variante dessen, was er bereits vom Bestatten kannte. Tote Gesichter sind schwieriger, weil sie tot sind, aber auch leichter, weil man Gips, Kitt und echte Farbe verwenden kann. Man kann sogar Stücke abschneiden, wenn’s sein muss, aber das behält man besser für sich.
    Er lebte dann in einer Stadt im Landesinneren, in irgendeinem alten Haus, als sich eines Tages ein dünner und ein dicker Mann bei ihm meldeten. Er benutzte einen falschen Namen, weil er nichts mit seiner Familie zu tun haben wollte, aber sie wussten trotzdem, wer er war, keine Ahnung, woher.
    »Das war schon vor Jahren, stell dir vor. Vor fünf, sechs. Keinen Schimmer, was wir heute für’n scheiß Datum haben.«
    Joe weiß es übrigens ebenso wenig. Wie viele Wochen ist er gefangen gehalten worden? Oder sind es Monate gewesen? Er hat keine Ahnung. Er ist erschöpft, so viel weiß er.
    »›Mr Parry‹, sagt der Dünne, ›wir hätten eine bestimmte Aufgabe für Sie. Sie wird gut bezahlt, aber sie ist ziemlich geheim.‹ Nun, ich hab’s gemacht, was denkst du? Eine Leiche sollte ich anziehen, haben sie gesagt. Sie respektabel aussehen lassen. Ich wusste, wie das geht. Einige Wochen später brachten sie mir eine andere und noch eine. Jedes Mal zweitausend bar auf die Hand, herzlichen Dank, und das Versprechen von weiterer Arbeit. Aber ich hab ein komisches Gefühl gekriegt. Diese Typen – es waren alles Typen, Gott sei Dank, keine Weiber und keine Kinder, sonst hätt ich’s nicht gekonnt –, sie sahen aus wie … na ja. Wir wissen es jetzt, was? Sie waren an dem Ort gewesen, von dem wir gerade kommen, oder an einem ähnlichen Ort, und sie hatten es nicht geschafft. Sind auf dem OP-Tisch gestorben

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