Der goldene Schwarm - Roman
Burggraben, woraufhin sich ölige kleine Wellen sofort in brodelnden Schaum verwandeln.
Joe senkt sein Fernglas und starrt Polly Cradle an.
»Ja«, sagt sie. »Ich hab’s auch gesehen.«
»Piranhas? In London?«
»Sieht wohl so aus.«
»Du verarschst mich doch.«
Polly tippt auf ihrem Handy eine Nummer ein. »Ja, hallo, mein Name ist Linda, ich bin beim Sharrow House. Ja, könnten Sie mich hier abholen … vielen Dank.«
Einen Augenblick später tuckert ein Londoner Taxi auf das Tor zu. Joe sieht mit gerunzelter Stirn und einem gewissen Schuldgefühl zu. Noch bevor das Taxi es auch nur auf die Brücke geschafft hat, wird es bereits von schwarz gewandeten Mönchen und Soldaten umringt, und dann kniet der Fahrer auch schon im Kies und liegt als Nächstes flach auf dem Boden.
»Oh«, sagt die Regenschirm-Frau gehetzt. »Nun, hier können Sie sehen, wie die britischen Streitkräfte die Wartungsarbeiten für ihr Training nutzen. Dafür einen Applaus bitte.«
Alle klatschen. Der Taxifahrer liegt im Staub.
Joe verzieht das Gesicht. »So kommen wir da nicht rein.«
Auch ein weiteres Gespräch mit Arvin Cummerbund hilft ihnen nicht weiter. Arvin ist schmerzlich entschlossen, mit seiner Abbitte fortzufahren, ist jedoch nie selbst in Sharrow House gewesen. Das Nachlassamt pflegt eine offene, überaus tolerante Fernbeziehung mit seinem religiösen Subunternehmer. Anders ausgedrückt, bevorzugen es Rodney Titwhistle und seine politischen Herren, wie Arvin zugibt, nicht zu wissen, was die Ruskiniten tun. Sharrow House ist eine Art riesiger toter Winkel im Blickfeld der britischen Verwaltung, und zu den besonderen Aufgaben des Nachlassamtes zählt es, sicherzustellen, dass nichts von dem, was sich in ihm abspielt, ans Tageslicht kommt – oder wenn doch, dass absolute Klarheit darüber herrscht, dass jedwedes Verbrechen ohne Wissen der Regierung verübt wurde: ein bedauerlicher Mangel an Kontrolle, aber keine tatsächliche Komplizenschaft. Aus alledem wird gelernt werden – das ist selbstverständlich.
In einem alten Brauereikeller unter der Themse, der von einem von Mathew geschmierten Sachverständigen 1975 für einsturzgefährdet erklärt wurde und daher für alle Zeit freisteht, sitzt Joe Spork auf einem dreibeinigen Hocker und starrt mit düsterem Blick die Blaupausen an, als könne er sie durch pure Willenskraft dazu bringen, das zu offenbaren, was er braucht. Er atmet den Geruch von Kopierlösungsmittel und warmem Papier ein und wippt unruhig mit den Beinen.
Zu seinen Füßen liegt die Thompson-Maschinenpistole in ihrem Posaunenkoffer. Er schaut sie nicht an, doch das schwere Metall lässt ihm keine Ruhe. Er sieht vor seinem geistigen Auge, wie er sie abfeuert, wie ihn das Trommelfeuer der Schüsse mitreißt, aber er weiß nicht, was das bringen soll. Er kann die Tore des Opium-Khans nicht niederschießen. Er kann den Anschauungsapparat oder die Kalibrierungstrommel auch nicht aus drei Meilen Entfernung zerstören. Bevor er irgendetwas unternehmen kann, muss er ins Haus hinein.
Joe erhebt sich und tritt zurück, steht im Halbdunkel und schwingt seine Arme im Kreis wie ein Sportler, der gegen einen Krampf kämpft. Er findet die Plastikröhre, in der die Blaupausen geliefert wurden, und nachdem er diese zusammengerollt und wieder hineingeschoben hat, legt er sie sich über die Schulter. Die Lampe über dem Tisch schafft einen Kreis aus Licht und Wärme. Widerwillig wendet er seinen Blick davon ab und marschiert in die Dunkelheit der Tosher-Tunnel hinein.
Joe Spork liebt die Tunnel. Er liebt auch die Tosher selbst, diese verrückten Mondmänner in ihren Schutzanzügen. Er liebt die behagliche Geschlossenheit und die Stille der Gänge, die hoch aufragende Majestät der Zisternen und Gewölbe. Dabei denkt er meistens gar nicht darüber nach, worum es sich handelt: um ein gewaltiges, unterirdisches Netzwerk, das zum großen Teil unter dem Wasserspiegel verläuft und von dem einzelne Abschnitte im Winter und im Frühling komplett überflutet werden. Die Tosher tragen ihre Anzüge nicht ohne Grund.
Bäuchlings kriecht er durch eine trockene Rohrleitung und versucht, die Hochwassermarkierung gut fünfzehn Zentimeter über seinem Kopf zu ignorieren. Er kann es überall um sich herum riechen: Wasser, das hier gewesen und wieder abgeflossen ist, Wasser, das sich in den angeschlossenen Rohren befindet, Wasser, das durch den Boden quillt. Er versucht ebenfalls zu vergessen, dass er diese Reise auf dem Rückweg in
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