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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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abgewimmelt, das eine Tüte Sonnenblumen- und Pinienkerne mit ihm teilen wollte (der Ehemann hatte sich mit einem großzügigen »Möchten Sie meine Nüsse essen?« an ihn gewandt), und sich während des endlosen Vortrags über König Edward und Mrs Simpson an Pollys Schulter gelehnt. Sie haben sich Hampton Court und Kew Gardens angeschaut, und nun kriecht der Bus durch den grauen Regen und das orangefarbene Zwielicht an Sharrow House vorbei.
    »Auf der linken Seite«, erklärt die Frau mit dem gelben Regenschirm, »sehen wir den Sharrow-Sitz. Normalerweise gehen wir gern dort hinein, füttern die Enten und bewundern die bemerkenswerte Verbindung der verschiedenen Architekturstile« – Letzteres, als gebe sie einen Todesfall bekannt –, »die darauf zurückzuführen ist, dass im Laufe der Jahrhunderte so oft der Besitzer gewechselt hat. Wie Sie vielleicht wissen, zählt Sharrow House zu Londons Verteidigungsanlagen, was bis auf die Epoche von Heinrich VIII zurückgeht. Während der Cromwell-Zeit wurde es zweimal belagert, doch nie eingenommen.« Anerkennendes Gemurmel im Bus. Schließlich ist dies ja genau das, was man von einer Festung erwartet – es sei denn natürlich, dass man zufällig einen Einbruch plant.
    Durch Joes Feldstecher betrachtet, ragt Sharrow House hoch und skurril über ihnen auf – mit einer einzelnen sehr hohen Turmspitze in der Mitte, einem Anbau der Romantik, der sich völlig unpassend aus dem Trutzgemäuer des sechzehnten Jahrhunderts erhebt. Auf den Blaupausen sieht der Turm wie ein Fadenkreuz aus. Aus der Nähe erscheint er eher wie ein Speer oder ein Warnschild.
    Rund um das Haupthaus reihen sich die später ergänzten Bauten, viktorianischer Backstein und weißer Stuck, auf der einen Seite des Daches sogar etwas, das ein wenig nach Frank Lloyd Wright aussieht, ein geschwungenes Holz-und-Glas-Observatorium; aber all das ist fest abgeriegelt, und Joe erkennt das Ethos der Ruskiniten, und zwar der echten. Sharrow House verfügt über dieselbe Überlegenheit der Gestaltung, die ihm am Lovelace aufgefallen ist, dieselbe Stärke. Es verfügt auch über jede Menge echter Verteidigungsanlagen – eine Umgebungsmauer, Wachposten, sogar über einen echten Burggraben: ein brackig grünes Gewässer von sechzig Metern Breite, über das eine einzige schmale Brücke zum Haupttor führt. Im hinteren Teil steht sogar noch ein uralter Wehrbunker, ein Relikt aus der Zeit des Blitz. Daneben erkennt Joe eine kurze Schienenstrecke, die an einer Mauer endet, an deren Stelle sich früher die Munitionshalde der Burg befand.
    Der Vortrag blubbert vor sich hin. »Das Haus dient zurzeit als Hauptquartier eines Mönchsordens, der sich auf Kirchenarchitektur spezialisiert sowie auf die Pflege von Waisen und Geisteskranken, was heutzutage jedoch in zweckmäßigen Einrichtungen stattfindet.«
    Joe achtet sorgsam darauf, keine Miene zu verziehen, während er sich an den weißen Raum erinnert. Ja. Zweckmäßig , das kann man wohl sagen. Er beobachtet, wie zwei vermummte Gestalten mit langsamen und nur ein klein wenig unechten Schritten übers Gras schlurfen. Polly Cradles Hand umfasst fester seine Schulter, und ihm wird klar, dass er gepfiffen hat, nicht wie bei einem schlechten Konzert, sondern ein Ausstoß von Luft durch zusammengepresste Zähne. Alle schauen ihn an.
    »Tschuldigung«, sagt er so dänisch wie möglich. »Ich habe Windaktivität.«
    Die Reiseleiterin lächelt emotionslos. »Im Gegensatz zu so vielen anderen Gebäuden von Heinrich VIII, wurde es nie genutzt, um unbequeme Ehefrauen oder umschwärmte Geliebte unterzubringen, doch es bleibt eines der interessantesten unentdeckten Bauwerke der Hauptstadt. Ich rate Ihnen, noch einmal hierherzukommen, wenn es nicht geschlossen ist, und eine Führung mitzumachen.«
    »Warum ist es denn geschlossen?«, fragt ein adretter kleiner Mann in der zweiten Reihe des Busses, der einen dieser nach OP aussehenden Plastikregenmäntel trägt.
    »Zur Wartung«, sagt die Regenschirm-Frau knapp.
    »Wartung?«
    »Ja. Man würde glauben, wir könnten trotzdem hineingehen, nicht wahr, aber offensichtlich … wird bei der Instandhaltung auf unsere Gesundheit und Sicherheit Rücksicht genommen.« Selbst die japanische Gruppe ganz hinten ist mit dieser allzu englischen Obsession vertraut. Alle lachen.
    Als Joe zum Haus hinüberschaut, lehnt sich eine Frau, wahrscheinlich eine Haushälterin, aus einem Fenster und wirft etwas Schlauchartiges, das nach Innereien aussieht, in den

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