Der goldene Schwarm - Roman
kennenzulernen. Zu spät, um Zutritt zu den geheimen Orten zu erhalten, zu spät, um ein Gentleman-Gauner zu werden, zu spät, um die Zuneigung seiner Mutter zu genießen, bevor sie in einer von Gott besessenen Schwermut versank. Und zu spät für die verrückte Offenbarung, die hier einmal gewartet hat. Er hatte sich den Glauben gestattet, dass es schließlich doch noch ein Wunder auf dieser Welt geben könnte, das nur für ihn bestimmt ist. Eine Dummheit.
Er befindet sich, wie er feststellt, auf der falschen Seite der fünfunddreißig und immer noch nicht näher an dem, was er einmal sein wollte, falls er denn je gewusst hat, was das wäre.
Die innere Natur von Joe Spork ist die Unentschlossenheit , hatte eine Freundin bei der Trennung einmal zu ihm gesagt. Er hat Angst, sie könne sich getäuscht haben. Es gibt gar keine innere Natur, keinen Kern in ihm. Keine Substanz. Nur ein Dutzend widersprüchlicher Antriebe, die sich gegenseitig aufheben und zu nichts führen. Sei ein Gangster. Sei ein ehrlicher Mann. Sei Daniel, sei Mathew, sei Joe. Mach etwas aus dir, aber tritt nicht zu sehr hervor. Finde ein Mädchen, aber bloß nicht das falsche. Bring die Uhren in Ordnung, halte die alte Firma am Laufen. Verkauf alles, und mach dich aus dem Staub, verlass London, und verzieh dich an irgendeinen Strand. Sei jemand. Sei niemand. Sei du selbst. Sei glücklich – aber wie?
Er hat keine Ahnung.
Unten in den Höhlen, zwischen den Klippen, brandet das Wasser auf und ebbt wieder ab. Ein merkwürdiger Ring aus weißem Schaum und angestiegenem Wasser gurgelt inmitten der Bucht, wo die See um eine Ansammlung von Felsen herumwirbelt. Über ihm ziehen sich gleichgültige Wolken zusammen, und es beginnt zu regnen. Es ist noch nicht einmal vier Uhr, aber Joe hat bereits das Gefühl, als breche die Nacht an. Ihm wird bewusst, dass ihm Wasser aus den Augen rinnt, und er ist sich nicht sicher, ob es der Wind ist, der das verursacht.
»Verdammt«, sagt er ein wenig wehleidig und dann, mit wachsendem Ärger: »Verdammt, verdammt, verdammt.« Der Meereswind trägt die Worte mit sich fort, sodass sich seine Stimme hohl und winzig anhört.
Nun ja. Um ehrlich zu sein, tut sie das immer.
Er wendet sich ab und blickt direkt in ein wildes, wütendes Gesicht, nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Er schreit auf und stolpert zurück.
»Wer zur Hölle sind Sie?« Der Mann hat weiße Bartstoppeln und die Augen eines Opiumsüchtigen, die unter der schmierigen Kapuze seiner Öljacke hervorstarren. »Was machen Sie hier? Das ist mein Land! Das ist keine scheiß Touristenattraktion! Es ist privat, für mich und für sie! Es ist ein Grab!« Die Stimme hat einen nördlichen Akzent, ist aber gefärbt von in dieser Gegend verbrachten Jahrzehnten, und die Vokale haben ein rundes Surren angenommen.
»Ein Grab?«
Der Mann stößt ihm gegen die Brust; ein Zustechen seiner Finger, um ihn zu verscheuchen, aber das richtet nur wenig aus, denn Joe Spork ist kräftig, und der andere mag groß sein, aber schwer ist er nicht.
»Jawohl, tot und begraben, so tot wie tausend Mann, Tod und Teufel, mausetot, klar? Der Boden besteht aus Knochen, und der Himmel ist die Haut, und alles verwest genau wie ich und genau wie Sie. Jetzt gehen Sie weg. Es ist eine Schande, dass Sie hierherkommen. Es sollte Ihnen leidtun, aber das tut’s nicht.«
»Doch, es tut mir leid. Ich wusste es nicht. Ich wollte nicht hier eindringen. Ich habe ein Paket für die Leute im Haus. Das ist die Adresse. Ich hatte keine Ahnung, dass es nicht mehr steht.«
»Das alte Haus ist in der See untergegangen. Der Boden ist darunter weggebrochen. Im Sommer kommen die Gaffer, suchen nach einem kleinen Kick. Wollen die Zeit totschlagen. Die Toten sind aufs Meer hinausgetrieben, tiefer und tiefer in die Dunkelheit, aber ist das nicht immer so? Die Geister sind wie die Spatzen, sie tapsen auf dem Dach von meinem Gewächshaus herum. Geister im Efeu und im Ginster. Sie umklammern das Gewächshaus, würgen einem die Hoffnung ab, legen einem kleine Finger um den Hals. Efeu zieht einen hinunter wie Wasser … Haben Sie jemals Efeu geschnitten?« Letzteres in einem seltsam sachlichen Konversationston.
»Nein«, sagt Joe vorsichtig, »hab ich nicht.«
»Dann sieht man die Hände, kleine zupackende Finger. Efeu bereitet einen langsamen Tod, dauert Jahre. Ginster ist schneller, aber nicht so grausam. Den Ginster verbrenne ich manchmal, aber Efeu kann man nicht verbrennen, sonst verliert man alles.
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