Der goldene Schwarm - Roman
freundlich zu sein und es nicht zu bemerken.
Und plötzlich liegt der Stein wieder auf dem Fensterbrett, und Tess bedient geschäftig einen anderen Kunden.
Billy Friend schlägt sich die Hände vor den Kopf.
Der Wagen ist eine miese Schrottmühle, das beste Stück in einer sehr kleinen Sammlung. Joe vermutet, dass das Fahrzeug jünger ist als er selbst, aber Geld würde er darauf nicht setzen. Neben ihm hält Billy die Karte von Tess in der Hand. Sie ist mit einem frustrierten Kugelschreiber gezeichnet worden, die Straße folgt dem Verlauf der Eisenbahnschienen, und unten auf dem Zettel prangt ein widerwilliger Kussmund, um die verschenkten Möglichkeiten anzudeuten.
»Was du mit diesem Mädchen gemacht hast, sollte unter Strafe stehen«, grummelt Billy Friend.
»Ich hab gar nichts gemacht.«
»Dessen sind wir uns alle schmerzlich bewusst. Die liebreizende Tess weint wahrscheinlich immer noch bitterlich in irgendeiner Küchenecke und beklagt, wie ihr Herz verschmäht wurde. Von ihren anderen hervorstechenden Attributen ganz zu schweigen.«
»Na schön, ich hab es nicht kapiert.«
»Ja, das würde ich so sagen.«
»Wir können nicht alle wie du sein, Billy.«
»Wir können aber alle wie wir selbst sein, Joseph, und wenn eine Frau einem die Hand in ihr Oberteil steckt, wer ist dann schon so blöd und kriegt es nicht mit, dass sie nicht nur die regionalen Volkssagen erörtern will?«
»Ich bin nur …«
»Du versuchst zu angestrengt, ein Gentleman zu sein, Joe. Es spielt sich alles in deinem Inneren ab, aber es kommt niemals raus. Du bist komplett verklemmt.«
»Bin ich nicht!«
»Na schön, dann: Was hätte denn unsere kleine Tess unternehmen können, das du als unmissverständliches Angebot aufgefasst hättest?«
»Lies die Karte.«
»Ich mein ja nur.«
»Bilde eine Aufforderung aus den folgenden drei Worten: Die, lesen, Karte.«
Billy gehorcht.
Sie entdecken keine Anzeichen von Hexenverbrennungen, während sie über die engen Landstraßen auf Hinde’s Reach zufahren. Als sie um eine Kurve biegen, zeigt Billy Friend auf ein großes, rostiges schwarzes Fass, von dem er annimmt, es könne sich um einen Kessel handeln, der zum Kochen der Missionare verwendet wird, aber die stille Düsternis des Himmels verschluckt den Scherz. Keiner von beiden erwähnt verwachsene Füße. Sie sind an zwei Spaziergängern und einer Frau auf einem Fahrrad vorbeigekommen, und Joe hat sich selbst dabei ertappt, wie er unwillkürlich ihre Schuhe gemustert hat, um zu sehen, ob sie ungewöhnlich groß waren.
Sie kommen über einen Hügel, und eine kleine Ansammlung von Häusern aus Beton und Wellblech taucht vor ihnen auf. Auf der Karte von Tess ist sie als Old Town eingezeichnet, ist aber nicht einmal groß genug, um ein Dörfchen abzugeben. Inmitten der winzigen Siedlung stehen ein Bauernhaus und eine einzelne einsame Tanksäule mit einem zerbeulten Kreditkartengerät darauf.
Joe fährt langsamer und kurbelt das Fenster herunter, damit er mit der Frau sprechen kann, die auf einer Bank sitzt und die Straße beobachtet. Sie hat wirres, erschreckend rot gefärbtes Haar, aber als er sie anspricht und sie sich ihm zuwendet, erkennt er, dass sie sehr alt ist. Die geplatzten Blutgefäße lassen ihre Wangen lila erscheinen.
»Hallo«, sagt er und versucht gleichzeitig freundlich und sehr deutlich zu sprechen, für den Fall, dass sie taub ist. »Wir suchen Hinde’s Reach House.«
Sie stiert ihn an. »Was war das?«
»Hinde’s Reach?«
»Ah.« Sie seufzt. »Ist wieder unter der Erde, nicht wahr, und das ist auch ganz gut so.«
»Wir haben ein Paket für das Haus da oben.«
»Ach ja?« Sie zuckt mit den Schultern. »Nun, da kommen Sie zu spät, würd ich sagen.«
Ein Mann in Socken und Hausschuhen taucht aus dem Bungalow hinter ihr auf. Er hat ein Gesicht, dessen Teile nicht zueinanderpassen, als wenn die eine Hälfte vor langer Zeit zerstört und wieder rekonstruiert worden wäre.
»Was hat ’n das hier zu bedeuten?« Er versucht zu lächeln, vielleicht hat er aber auch nur eine Gesichtszuckung.
»Die Post«, sagt sie zu ihm. »Ein Paket für Hinde’s Reach.«
»Paket für die Toten, oder was?« Er spuckt aus. »Sowieso Schweine.« Er geht ins Haus zurück.
Sie seufzt. »Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass Sie’s ihm besser nicht erzählen. Er ist immer noch wütend über all das, was damals passiert ist.«
»Dass die Stadt untergegangen ist?«
»Nein, nein. Das war natürlich. Schrecklich, aber natürlich. Er
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